Klaus Rainer Röhl: "Deutsche Tabus - Ungefragte Antworten"

Rezensiert von Josef Schmid · 20.05.2005
Man muss gespannt sein auf ein Buch mit dem Titel "Deutsche Tabus". Für den Autor gelten sie offenbar nicht, sonst hätte er es nicht geschrieben. Das ist erstaunlich, denn die freieste Gesellschaft ist nicht frei genug, um sich im Falle allzu freier Meinungsäußerung nicht doch auf zwei Dinge zu verlassen: auf eigenes Vermögen oder seine Karrieremöglichkeiten ausgeschöpft zu haben und unabhängig sein vom Urteil anderer.
Mit so einem Autor müssen wir es zu tun haben. Ein Klaus Rainer Röhl beschreibt "Deutsche Tabus". "Ungefragte Antworten" nennt er sie; sie ist eine private Anthologie von 35 solcher Antworten, nach denen zu fragen nicht gerade opportun ist.

- Warum kein Mahnmal für tote Deutsche?
- Was sind eigentlich Faschisten – und Nazis? Woran erkennt man sie?
- Gibt es in Deutschland einen Antisemitismus?
- Warum heißt die Mauer um Israel bei uns Schutzzaun?
- Was heißt "Relativieren" und "Aufrechnen"?
- Was steckt hinter Mut, Schwarzarbeit, Tätervolk?
- Was wird bleiben von 1968?

Die Völkerkunde machte noch vor 1900 den Tabubegriff in Europa bekannt und wies darauf hin, dass man nicht in die Südsee fahren muss, um Tabus zu erleben, wir würden sie auch in der modernen Gesellschaft finden. Gruppen, Clans, Nationen brauchen Selbstwertgefühle und diese wiederum einen Schutz durch Tabuzonen und Tabuthemen - so spricht man im Hause des Gehenkten nicht vom Strick. Ein Hauptwerk von Siegmund Freud trägt Tabu im Titel und stellt absichtlich die unterirdische Beziehung zwischen Stammesvölkern und Zivilisation her. Das bestätigt zwar die Einheit des Menschengeschlechts, zeigt aber der aufgeklärten, angeblich nüchternen Gesellschaft die Grenzen ihrer Aufgeklärtheit. Auch sie sichert ihre lebensförderlichen Halbwahrheiten mit Selbstschussanlagen.

Wer also Tabus bricht, indem er sie der Reihe nach herzählt und bespricht, macht ungewollt sich selbst zum Thema. Seine Geschichte muss seitenverkehrt und wie ein Negativbild die politische Geschichte des Gemeinwesens widerspiegeln – und das scheint hier voll und ganz der Fall.

In den 60er Jahren, der hohen Zeit des Kalten Krieges, war Klaus Rainer Röhl der Herausgeber der linksextremen Zeitschrift "Konkret": Kolumnistin war eine Frau mit hübschem pausbäckigen Gesicht, namens Ulrike Meinhof - seine Frau. Ein Sebastian Haffner lieferte darin scharfsinnige, neutralistische Buchbesprechungen. Wenn man so ein Exemplar einmal auf der Studentenbude hatte und es an der Tür klingelte, dann steckte man es vorsichtshalber schnell weg.

Die Frage drängt sich auf, was denn Ulrike Meinhof zur Raserei gebracht haben könnte; es war mehr und mehr ein brennendes Interesse an der deutschen Vergangenheit, die auch die östlichen Geheimdienste während des Kalten Krieges bald als das bequemste Einfallstor in die westliche Phalanx zu instrumentieren wussten. Von da aus braucht nur ein Funke in den politischen Pietismus überzuspringen, um Brände auszulösen. Was man heute unter "Bewältigung", "Aufarbeitung", "Erinnerung" und "Mahnung" an geschichtlich gewordene deutsche Sündenfälle im Munde führt, war nicht immer die Heil- und Unschuldspflanze, als die sie heute, 15 Jahre nach Untergang des Kommunismus, erscheint. Ein Weg in den Linksradikalismus und Terrorismus ist auch mit Verabsolutierung nationaler Verbrechensgeschichte gepflastert. Wer Letzteres stützt, muss auch dem Ersteren ein gewisses Verständnis entgegenbringen. Die Bemühungen gewisser Intellektuellenkreise, aus dem deutschen Linksterrorismus ein existenzialistisches Kunstwerk zu modellieren, wollen nicht aufhören.

Klaus Rainer Röhl wittert wie kaum einer, dass in Deutschland die linke Gemütshegemonie ungeniert weiter besteht; weder ein "Schwarzbuch des Kommunismus", das an die 100 Millionen Tote registriert, noch 80 Kilometer Stasi-Akten können ihr etwas anhaben, vom Linksterrorismus vor 30 Jahren ganz zu schweigen, der inzwischen zum Thema von Kunstausstellungen hoch klettert. Genau hier stößt Röhl zu, er betritt eine Dunkelkammer kreuz und quer liegender Rechthabereien, wenn er fragt: "Wodurch unterscheiden sich Nazis von Kommunisten?"

"Kaum. Jedenfalls nicht im Ergebnis. Die Wirkung auf das Zusammenleben der Menschen – und Völker – ist die Gleiche. Die Denkart ist militant und auf die Vernichtung des Gegners ausgerichtet."

Damit begibt er sich schon auf vermintes Gelände des Systemvergleichs. Zwischen West und Ost war er üblich. Beim Vergleich zwischen NS-Regime und Kommunismus droht der Zusammenstoß mit einem Tabu; mit dem Kapitel "Relativieren und Aufrechnen" wird eine intellektuelle Industrie aufgewühlt:

"Mit dem Vorwurf der Aufrechnung ist gemeint, dass man die Massenmorde Stalins nicht gegen die Hitlers aufrechnen und damit relativieren dürfe… Diese… Behauptung vom "Verharmlosen durch Vergleichen" setzt beim genauen Hinsehen voraus, dass ein gezielter Massenmord an unschuldigen Menschen dadurch harmlos wird, wenn irgendwo anders auch Massenmorde begangen worden sind."

Man muss erkennen, dass Tabusetzungen mitten im demokratischen Pluralismus subtile Freiheitseinschränkungen darstellen. Man könnte ja - denn Wissenschaft und Forschung sind bekanntlich frei - den Vergleich nach 60 Jahren zulassen und sein Ergebnis in aller Ruhe abwarten. Doch solcher Gelassenheit fährt der politische Moralismus vorzeitig und sektiererisch in die Parade.

Mit der bekannten Polemik um "Sekundärtugenden" und Zustände im Bildungsbereich sagt der Autor:

"Die Ausdünnung der ethischen Mindestanforderungen, an die man die jungen Menschen seit 1968 in Schule und Elternhaus gewöhnen wollte, ist seitdem noch weiter vorangekommen und hält mit der Auszehrung der Schulbildung Schritt. Eine seit etwa 1980 von den antiautoritären Lehrern ethikfrei, oft auch lehrstofffrei erzogene…Freizeitgeneration ist inzwischen erwachsen geworden... …Eines Tages wird Bilanz gezogen werden…über die große Bewegung…, die angetreten war, das Bewusstsein der Deutschen und damit Deutschland zu verändern. Das ist ihnen tatsächlich gelungen. Aber fragen sie mich nicht, wie."

Röhls Polemik ist zielsicher, sein Stil präzise. Er ist schon lange rechts, weil er glaubt, von da aus das Meiste zurechtrücken zu können; denn auf der linken Seite ist er nachweislich "austherapiert". So fühlt er sich sicher genug, um Tabus zu benennen und eine länger andauernde Kampagne gegen Links zu führen. Er kennt die Schwächen des Landes, das Eigenwertdefekte mit Toleranz und Weltoffenheit bemäntelt. Wir haben in dem Buch einen Autor vor uns, der als unabhängiger, freier Geist erscheint, der trocken und schnörkellos Feststellungen trifft. Doch weder Autor noch Leser sind imstande, das Familienschicksal des Autors auszublenden.


Klaus Rainer Röhl: Deutsche Tabus - Ungefragte Antworten
Verlag Universitas bei Herbig/München, 2004