Klassismus

Die übersehene Diskriminierungsform

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Ein Schulkind verlässt das Kinder- und Jugend-Projekt "Die Arche" in Berlin-Hellersdorf, aufgenommen am 21.11.2006.
Arbeiterkindern fehlen in der Regel die Beziehungen und das Selbstbewusstsein, die so wichtig sind für den akademischen und beruflichen Erfolg, meint der Autor Houssam Hamade. © picture-alliance/dpa/Gero Breloer
Ein Einwurf von Houssam Hamade · 28.07.2020
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Beim Thema Diversität geht es meist um Nationalität, Geschlecht und Ethnizität. Der Journalist Houssam Hamade bemerkt hier einen riesigen blinden Fleck: den Klassismus, also die Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft.
Googeln Sie einmal "Diversity" plus "BMW", "Daimler", "Amazon" oder irgendeinen anderen großen Konzern. Alle schreiben sich Diversität auf die Fahnen. Und zumindest im geisteswissenschaftlichen Bereich schließt so gut wie jede Ausschreibung mit dem Vermerk, dass man Frauen oder Menschen mit Migrationshintergrund ermutige, sich zu bewerben.
Und doch werden die meisten Redaktionen und Agenturen zum Großteil von weißen Männern geleitet. Schlimmer ist es noch in den Chefetagen der deutschen Wirtschaft, die zu 90 Prozent aus westdeutschen Männern bestehen.

Arme und Arbeiter werden negativ dargestellt

Dennoch ist es eine gute Sache, Diversität als Ideal hochzuhalten. Wenigstens wird so deutlich, dass wir noch lange in keiner offenen Gesellschaft leben. Leider hat die so weitverbreitete Forderung nach Diversität einen riesigen blinden Fleck: Den Klassismus, also die Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft.

Klassismus und Rassismus sind verwandt

Vor allem der Klassismus gegen Arme ist dem Rassismus verblüffend ähnlich. Der rechte Bestsellerautor Thilo Sarrazin heftet beispielsweise arabischen oder türkischen Migranten ähnliche Zuschreibungen an, wie Menschen, die Hartz IV beziehen. Er beschreibt sie als faule Subventionsempfänger, denen es an Antrieb fehle, die zu viele Kinder zur Welt und Deutschland den Untergang brächten.
Klassismus und Rassismus sind historisch eng verwandte Ideologien. Schon 1438 beschrieb ein spanischer Priester verschiedene "Rassen", die heute eher als Klassen verstanden werden: Die "gemeine Rasse der Bauernsöhne" und die "gute Rasse" der Ritter, die für höhere Aufgaben geboren sei, nachzulesen in "Rassismus in der Vormoderne" von Max Sebastián Hering Torres.

Bildungssystem verstärkt Klassenunterschiede

Der Soziologe Aladin El-Mafaalani zeigt in seinem neuen Buch "Mythos Bildung", dass Klassenunterschiede durch das deutsche Bildungssystem nicht ausgeglichen, sondern verstärkt werden. Anstatt die Tatsache anzuerkennen, dass bestimmte Schichten auf Grund ihrer Lebensumstände Probleme im Bildungssystem haben, würden diese Probleme alleine dem Versagen der Personen selbst zugeschrieben.
Für eine Schülerin, deren Mutter gestorben, deren Vater Alkoholiker ist und die sich deshalb auch um die kleineren Geschwister kümmern muss, sei es schon eine Riesenleistung, in der Schule mittelmäßig zu sein.

Arbeiterkindern fehlen Beziehungen

Menschen mit bürgerlicher Sozialisation werden viel besser gefördert. Da hilft der gehobene Sprachcode der Eltern, die außerdem kompetenter bei den Hausaufgaben helfen können, die Nachhilfe und Bücher und Tablets bezahlen können, die ein stabileres, weil finanziell abgesichertes Umfeld bieten.
Arbeiterkindern fehlen in der Regel die Beziehungen, der Habitus und das Selbstbewusstsein, die so wichtig sind für den akademischen und beruflichen Erfolg. So gesehen erklärt die soziale Herkunft mehr als ein Migrationshintergrund. Wer aus einem migrantischen Akademikerelternhaus komme, habe kaum Probleme im deutschen Schulsystem, so El-Mafaalani.

Diversität sollte soziale Herkunft berücksichtigen

Das Problem zeigt sich auch in den Statistiken: Von 100 Kindern aus nicht-akademischen Familien nehmen nur 27 ein Studium auf, obwohl doppelt so viele das Abitur bestehen. Von 100 Akademikerkindern studieren dagegen 79. Das ist wirtschaftlich gesehen unklug, weil so Talente verkümmern. Vor allem ist es aber ungerecht. Die soziale Herkunft sollte ein zentraler Bestandteil des Ringens um Diversität werden.
Einen symbolischen Schritt dahin macht das Berliner Antidiskriminierungsgesetz, das seit Kurzem diesen Diskriminierungsgrund anerkennt. Dabei sollten wir nicht vergessen, dass Armut und Ungleichheit die Hauptursache von Klassismus sind, nicht falsche Einstellungen einzelner Menschen.

Houssam Hamade ist freier Journalist und Autor. Im Herbst 2018 erschien sein Buch: "Sich prügeln: 18 Geschichten aus dem Leben". Hamade lebt in Berlin.

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