Klassiker kompakt

Von Matthias Thibaut · 15.05.2007
Es fing an mit ein bisschen Ehrlichkeit: Orion Cheflektor Malcom Edwards gab bei einer internen Beichtsitzung im Büro zu, dass er Middlemarch von George Eliot nie schaffte - 736 Seiten in der Penguin Ausgabe, den meisten aus der 6 Stunden-Kostümfilmserie der BBC bekannt. Nach und nach gaben die Kollegen im Büro dann alle zu, dass es auch bei ihnen peinliche Lektürelücken gibt.
Dann trieben die Orion Leute ein bisschen Marktforschung und fanden heraus, dass 98 Prozent der Menschen keine Klassiker lesen, und das trotz höchsten Interesses an den Stoffen und Charakteren der Romane des 19. Jahrhunderts, die wir ja aus Film und Fernsehen kennen.

Ähnliche Ergebnisse hatte dann eine Studie des englischen Nachrichtenservice Telextext unter Bücherkäufern. 55 Prozent der 4000 Befragten kaufen Bücher nur zur Dekoration, 48 Prozent sind zum Lesen in der Regel zu müde und sogar bei denen, die ihre Bücher dann tatsächlich in die Hand nehmen, lässt die Lesemoral zu wünschen übrig: 32 Prozent haben Harry Potter und der Feuerkelch nicht zu Ende gelesen.

Zeit ist eben knapp, der Rhythmus des modernen Lebens hektisch, der Zwang alles gesehen zu haben und überall mitreden zu können ist groß: Kein Wunder, dass eines der am genauesten gelesenen Bücher den Titel trägt: "Wie man über Bücher spricht, ohne sie zu lesen" - der Beststeller des Franzosen Pierre Bayard.

Bei Orion war dadurch die Marschrichtung vorgegeben: An die 100 dicke Bücher aus dem Kanon sollen in den nächsten Monaten und Jahren durch geschicktes und behutsames Kürzen auf ein verdauliches Format gebracht werden - unter dem Serientitel: "Große Klassiker in der halben Zeit".

Die ersten sechs Titel kamen diese Woche in die Buchläden: Darunter Tolstois "Anna Karenina" und "David Copperfield" von Charles Dickens, 880 Seiten in der ungekürzten Everyman Ausgabe, 410 als David Copperfield in half the time: Der Text, obwohl für viele heute schon altertümlich und schwierig im Vokabular, ist unverändert, aber allzu lange Schachtelsätze sind übersichtlicher, die Dialoge etwas knackiger. Eine Notiz versichert aber, dass alle denkwürdigen Exzentriker des Romans, der Humor und das Pathos Dickens beibehalten wurden.

Was passiert ist, dass Handlung und Entwicklung in den Vordergrund treten und der Atem des Erzählers, der lange Erinnerungsbogen des Ich-Erzählers mit den vielen Einschüben, Gedankensprüngen und Assoziationen wird eben etwas flacher, weniger episch - die Kürzung, könnte man sagen, geht auf Kosten des Erzählers, nicht der Erzählung.

Noch extremer ist das in Herman Melvilles "Moby Dick". Von 1011 Seiten der Penguin Klassiker Ausgabe wurde Moby Dick auf 311 Seiten beschleunigt. 41 der 135 Kapitel sind weggefallen enzyklopädisches über die Technik und Geschichte des Walfangs oder philosophisch-ästhetische Kapitel wie der berühmte Exkurs über "The Whiteness of the Whale", die Farbe Moby Dicks: Aus einer Kosmologie, einem Weltmythos wird eben die Erzählung über Käptn Ahabs Rachefeldzug gegen den weißen Wal.

Proteste gab es kaum: Ein Buchhändler schrieb, man könne Klassiker nicht kürzen, ohne das zu zerstören, was wichtig an ihnen ist. Aber, echt bedacht wurde ja eigentlich immer schon gekürzt, man bearbeitet für die Bühne und den Film, man bearbeitet Shakespeare im Theater, liest die Kondensate im Readers Digest und wer hätte nicht, wenn er so einen dicken Roman in Händen hält, heimlich den einen oder anderen Absatz einfach übersprungen.

Sie können zu diesem Thema auch ein Interview mit der Literaturkritikerin Sigrid Löffler als MP3 hören.