Klassik in der U-Bahn

Von Verena Herb · 02.03.2009
Hamburg hat drei große Orchester: das NDR-Sinfonieorchester, die Hamburger Symphoniker und die Philharmoniker Hamburg. Wer da Erfolg haben will, muss auf sich aufmerksam machen. Die Philharmoniker haben dazu ihren Orchestergraben verlassen und sich auf 50 Orte in der Stadt verteilt, um gemeinsam die 2. Sinfonie von Johannes Brahms zu spielen.
Matthias Müller und Mario Schlumperger sitzen auf ihren Stühlen. Im dunklen Smoking und weißer Fliege, das Licht des Scheinwerfers spiegelt sich in den schwarzen Lackschuhen, vor ihnen auf dem Holzständer die Musiknoten. Dann plötzlich: Die Konzentration kehrt in ihr Gesicht, sie richten sich gerade auf, führen ihr Instrument zum Mund und.

Endlich: ihr Einsatz. Matthias Müller und Mario Schlumperger sind Trompeter bei den Hamburger Philharmonikern. Heute spielen Sie Brahms, die 2. Sinfonie. Doch nicht, wie gewohnt, im großen Saal der Hamburger Laizshalle. Sondern sie sitzen "Am Schlump". Einer U-Bahnhaltestelle. Links und rechts fahren die Rolltreppen in die Tiefe. Beim Bäcker vis-à-vis kauft ein Mann ein Brötchen, bezahlt und schlendert zur Menschentraube hinüber, die sich um Müller und Schlumperger gebildet hat, und lauscht der Melodie, die leise dröhnend aus dem kleinen grauen Fernseher kommt, die vor den beiden Musikern steht.

Um zu wissen, wann ihr Einsatz kommt, sind sie auf den Fernseher vor ihnen angewiesen. Denn darin können sie Simone Young sehen – die Chefin der Hamburger Sinfoniker. Sie steht sieben Kilometer entfernt auf dem Turm des Hamburger Michels und schwingt den Taktstock. Per Fernsehkanal wird ihr Dirigat auf 50 Fernseher übertragen, die in der ganzen Stadt verteilt sind. Und vor den Fernsehern: die Hamburger Philharmoniker. Während die Trompeter in der U-Bahnstation ihre Stimme spielen, sitzt Dylan Naylor, der die erste Geige spielt, in der Fischauktionshalle im Hafen. Mitten auf der Reeperbahn, im größten Sexshop am Kiez, der Boutique Bizarre, sitzt Stefan Schmidt mit seiner Violine und spielt Brahms zwischen Erotikvideos, Lack und Leder. 100 Musiker, 50 Orte, ein Konzert – ganz Hamburg wird zur Bühne für das größte Konzert der Welt.

"Ich finde, fantastische Idee. Ärgere ich mich, dass sie nicht von mir ist."

Die Idee hatte Simone Young. Die Generalmusikdirektorin der Hamburger Philharmoniker:

"Das Orchester ist das älteste Orchester der Stadt. Es ist das städtische Orchester. Und wurde geprägt durch große Dirigenten über die letzten Jahrhunderte. Aber immer auch bekannt für ein Wagnis zum Neuen. Und das ist jetzt der nächste Schritt."

Ein Schritt, der das Publikum zu überzeugen scheint. Eine Mutter ist extra mit ihrem Sohn zur U-Bahnstation "Am Schlump" gekommen:

"Finde das großartig, wir wären gerne überall. Aber wir haben uns jetzt für den Ort entschieden, weil wir hier in der Nähe wohnen und gucken uns das morgen noch mal im Internet an.
Und wie findest Du das?
Also auch ganz gut, weil man auch die Musik hört."

Sagt der Sohn und fügt sofort hinzu:

"Ich würde eher zu Red Hot Chili Peppers oder Jan Delay oder so ..."

Aber für einen Abend, da geht´s. Und genau das ist es, was Simone Young und die Hamburger Philharmoniker erreichen wollten:

"Wir wollen damit erzielen einen direkten Kontakt mit einem Großteil dieser Stadt. Es reicht nicht heutzutage zu warten, dass das Publikum zu uns in den Saal kommt. Wir wollen als Orchester rausgehen, in die Stadt und unser Publikum dort treffen. Dass Leute, die womöglich nie in die Laiszhalle reinkommen würden, wirklich Kontakt haben zu einem der hervorragenden Musiker dieses Orchesters."

So wie die dunkelhaarige Dame Mitte 50 mit der roten Brille. Sie scheint Musikliebhaberin zu sein und zeigt sich wenig optimistisch, dass Youngs Idee wirklich aufgeht:

"Ich glaube nicht, dass dadurch mehr Menschen in Konzerte gehen. Und wenn das so ist: Warum schickt Herr Neumeier nicht sein Ballett hierher?"

Wer weiß – vielleicht ist das der nächste Schritt. Schließlich geht der Trend auch in der klassischen Musik immer mehr zum Eventerlebnis, weiß Elisabeth Richter, Musikkritikerin aus Hamburg. Dass man am heutigen Abend keine neue Interpretation von Brahms 2. Sinfonie erleben wird, ist klar.

"Das muss man wirklich mehr als Event verstehen. Und es ist natürlich so, das sind die Hamburger Philharmoniker, die das älteste Orchester der Stadt sind, schon es dringend nötig haben, sich auch ein bisschen bekannter in der Stadt zu machen. Also andere Orchester, zum Beispiel die Hamburger Symphoniker haben unglaublich gute Marketingideen und sind denen da ne Nasenspitze voraus."

Aus dem Fernseher ertönt die komplette Orchesterversion der Brahm'schen Sinfonie, zur Orientierung für die Musiker. Was für eine Erfahrung ist es für sie? Mario Schlumperger, der Trompeter:

"Vordergründiges Empfinden ist Kälte. Kalte Füße, kalte Hände – und ich versuche irgendwie mit der Kälte klarzukommen. Ansonsten: Es ist schon spannend. Also, ich hab´s mir ehrlich gesagt lauter vorgestellt. Ich dachte, dass vielleicht mehr Trubel drum herum ist. Aber die Leute sind anscheinend interessiert und bemühen sich, leise zu sein. Insofern ist es schon eine spannende Atmosphäre."

Sein Musikerkollege Matthias Müller kann sich ein Grinsen nicht verkneifen:

"Weil es manchmal auch ein bisschen lustig ist, weil man hier drei Minuten wartet, um dann zwei Töne zu spielen. Und die ganzen Zuschauer warten hier, dass wir was spielen, und dann kommt halt nur ein Ton, und dann war´s das schon auch wieder. Und das finde ich recht amüsant."

Nach knapp 45 Minuten ist das größte Konzert der Welt zu Ende. Den Hamburgern hat´s gefallen. Simone Young auch:

"Wir feiern diese großartige Sache. Diese schon einmalige Event. Was die Philharmoniker jetzt mit mir zusammen in Hamburg zu Stande gebracht haben."

Und das ist nicht der einzige Grund zum Feiern: Heute hat Simone Young auch noch Geburtstag.