Klarheit und Wahrheit in der Politik

Von Gesine Palmer · 13.10.2011
Neuere sozialpsychologische Studien kommen zu dem Ergebnis, dass jeder Mensch im Schnitt ungefähr 200-mal am Tag lügt. Es sei dies nicht nur ein ganz normaler Vorgang, sondern überlebensnotwendig und für das Sozialleben unerlässlich.
Die Empörung über so eine Behauptung hält sich in überschaubaren Grenzen. In Augenblicken der Ehrlichkeit können wir bedenken, dass wir lügen müssen?

Zu sehr haben wir uns vielleicht daran gewöhnt, dass eine lieb gewordene Tugend nach der anderen von der psychologischen Wissenschaft ihrer Unmöglichkeit überführt wird. Nun wird also das Ende der Aufrichtigkeit eingeläutet? Ganz so weit ist es nicht.

Ungebrochen ist vielmehr die Empörung, wenn wieder einmal ein Politiker der Unwahrhaftigkeit überführt worden ist.

Wie bringt man das zusammen? Es scheint sich hier etwas verändert zu haben. Hieß es im alten Rom: quod licet Iovi, non licet bovi (was Jupiter erlaubt ist, darf der Stier noch lange nicht), so gilt heute eher: quod licet bovi, non licet Iovi. Dem Regierenden ist nicht erlaubt, was das Wahlvolk schamlos bis unverschämt für sich in Anspruch nimmt.

Die kleine Schmuddelei des Wählers ist seine Sache – der amerikanische Präsident hingegen ist ein Schuft, wenn er, um mal ein gut abgehangenes Beispiel zu nennen, der Öffentlichkeit Details über das Zustandekommen eines Flecks auf dem Kleid einer Praktikantin vorenthält.

Ist das gut so? Ich meine ja. Jedenfalls innerhalb gewisser Grenzen. Beim Kongress der Redenschreiber deutscher Sprache wurde in diesem Jahr in Berlin die Frage nach der Wahrheit von der Politik an die Wähler zurückgegeben: Wie viel Klartext vertragt ihr überhaupt? Wer so fragt, zeigt immerhin, dass er selbst am Ideal von Klarheit und Wahrheit noch festhält.

Natürlich müsse man sich in vielen Angelegenheiten einer diplomatischen Sprache befleißigen, war der Konsens der Redner, natürlich in heiklen Angelegenheiten Diskretion wahren: Aber in entscheidenden Fragen bleibt es beim ernsten demokratischen Anspruch. Nicht der Machterhalt durch Täuschung und Irreführung darf das Handeln der Politiker leiten, sondern Transparenz und klare Kommunikation sind das Ideal.

Hier wäre es vielleicht wünschenswert, nicht so sehr die Unterscheidung zwischen Jovis und Bovis zu betonen, sondern mehr die zwischen verschiedenen Wahrheiten. Es gibt Wahrheiten, die unbedingt kommuniziert werden müssen, wenn ein Gemeinwesen noch als freiheitlich gelten will.

Über die Haushaltslage darf die Öffentlichkeit ebenso wenig irregeführt werden wie über skandalöse Irrtümer der Sicherheitsdienste und betrügerische Intrigen zu Lasten der Wähler oder einiger ihrer Vertreter. Aber müssen wir wirklich alle persönlichen Affären unserer Politiker durchleuchten und hinter jeder ihrer Aussagen eine geheime Absicht, die ihr widerspricht, aufspüren?

Wer mit der Wahrheit umgeht, wer sich mit Kommunikation beschäftigt, der weiß, dass eine Aussage nie ganz mit sich selbst identisch ist, dass wir nie restlos das meinen können, was wir sagen. Es ist auch gar nicht nötig. Für die öffentliche Rede und die Glaubwürdigkeit der Politik hat es der ehemalige Bundespräsident Johannes Rau schlüssig so formuliert: "Es genügt, dass man sagt, was man tut, und tut, was man sagt."

Dass das nicht immer funktioniert, ist klar. Dass nichts mehr funktioniert, wo man, gebettet auf eine bequeme psychologische Rechtfertigung der Lüge, mit diesem Grundsatz schlampig wird, muss man sich gelegentlich klar machen.


Gesine Palmer, geb. 1960 in Schleswig-Holstein, gründete nach mehrjähriger wissenschaftlicher Lehr- und Forschungstätigkeit 2007 als Religionsphilosophin, Autorin, Beraterin, Trauerrednerin und Redenschreiberin das Büro für besondere Texte. Wiederkehrendes Thema ihrer literarischen und philosophisch-essayistischen Arbeiten ist der Zusammenhang von Religion, Psychologie und Ethik – im Kleinklein der menschlichen Beziehungen wie im Großgroß der Politik.
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