Klang macht Geschichte

    Und plötzlich singen Geister

    Die Klangkünstlerin Marie Guérin steht vor einer Wand im Halbmondlager in Wünsdorf und nimmt mit einem Mikrofon auf.
    Die Klangkünstlerin Marie Guérin bei einer Aufnahme im Halbmondlager in Wünsdorf. © Anne Kropotkine
    Marie Guérin im Gespräch mit Sarah Murrenhoff · 01.11.2018
    Die französische Klangkünstlerin Marie Guérin tourt im November und Dezember mit einer Performance durch Deutschland. Im Interview spricht sie über bretonische Kriegsgefangene, die aus dem Ersten Weltkrieg in die Gegenwart funken.
    Deutschlandfunk Kultur: Sie sind Klangkünstlerin. Auf Ihrer Webseite sprechen Sie von "hertzianischen Phantomen", die auf den Wellen Spuren hinterlassen. Was meinen Sie damit?
    Marie Guérin: Was auch immer sie sind - all die Geister, die aus der Vergangenheit auftauchen, halten uns einen Spiegel vor und senden uns unser eigenes Bild zurück. Sie zwingen uns, die Zeit zu spüren – sowohl die vergangene Zeit als auch die aktuell vergehende. Alle Geister sprechen über das Leben.
    Deutschlandfunk Kultur: Und was erzählen die Geister in Bezug auf "Même morts nous chantons"?
    Marie Guérin: Das sind jene Kriegsgefangenen, die im Ersten Weltkrieg in deutschen Gefangenenlagern zu Tonaufnahmen gezwungen wurden. Ungewollt erzählen jene Geister von ihren Wurzeln und Herkunftsländern, im kolonialen Kontext der Zeit. Sie sprechen über das Verhältnis von Sprache und Geographie zur Macht. Wenn wir mit zeitgenössischen Ohren hinhören, machen uns diese Geister darauf aufmerksam, wie viel davon bis heute vergessen wurde und was in unserem kollektiven Gedächtnis fehlt.
    Deutschlandfunk Kultur: Sie haben die Tonaufnahmen im Berliner Lautarchiv gefunden. Wonach haben Sie dort gesucht, als Sie mit Ihrer Recherche begannen?
    Marie Guérin: Ich weiß es nicht. Wenn ich mich einem Klangarchiv annähere, bin ich sehr aufgeregt und gleichzeitig verloren. Ich gehe mit der Annahme heran, dass es eine Geschichte gibt, eine Anekdote, ein Detail, das es zu finden und wiederzubeleben gilt. Ich fühle mich einerseits mit einer Mission für das Gemeinwohl verbunden und gleichzeitig habe ich das Gefühl, mich in eine höchstpersönliche Suche hineinzuwerfen. Ich suche nach etwas Intimem und Universellem zugleich: Und dann versuche ich, die Spannung zwischen diesen Extremen zu spüren und in Klang zu übersetzen. Am Anfang gehe ich ganz naiv und vor allem mit immenser Neugier an die Archive heran. Ich bin völlig offen für alles, was ich entdecke, und führe sozusagen eine Untersuchung durch, deren Zweck ich noch nicht kenne. Und dann taucht aus dem Rauschen irgendetwas auf.
    Deutschlandfunk Kultur: So wie der Gesang aus der Bretagne, Ihrer Heimat.
    Marie Guérin: Die Vielfalt der Sprachen Frankreichs zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist faszinierend. Als Bretonin fiel es mir am leichtesten, mich in einen bretonischen Kriegsgefangenen hineinzuversetzen, obwohl seine Wirklichkeit sehr weit entfernt ist von meiner. Auch wenn es brutal ist, sich eine einzelne Sache herauszupicken: Ich habe mehr Mitleid mit ihm einem bretonischen Kriegsgefangenen als mit Gefangenen aus anderen französischen Gebieten.
    Deutschlandfunk Kultur: Sprechen Sie Bretonisch? Haben Sie das Lied gleich verstanden?
    Marie Guérin: Nein, aber seitdem mein Sohn auf der Welt ist – 2014 – lebe ich zu Hause in einem bretonischen Sprachbad, weil mein Freund mit ihm Bretonisch spricht. Als ich die Aufnahme von Jean-Yves Briand entdeckte, hat mir mein Freund geholfen. Und dann habe ich im Rahmen der Recherche viele Menschen getroffen, die mir die Texte erklärt haben.
    Deutschlandfunk Kultur: Sie sind mit der Aufnahme in die Bretagne gefahren, um dort weiter zu suchen. Wonach?
    Marie Guérin: Nach der Wirklichkeit, nach dem Zeitgenössischen, nach dem Leben.
    Deutschlandfunk Kultur: Wie sind Sie bei der Recherche vorgegangen?
    Marie Guérin: Zuerst habe im Berliner Lautarchiv recherchiert, danach geschrieben, an unterschiedlichen Orten aufgenommen und daraus eine musikalische Komposition gemacht, eine Vor-Ort-Reportage durchgeführt und zum Schluss das Material geschnitten, um es für die unterschiedlichen Genres (Radio und Elektroakustik) zu mischen.
    Deutschlandfunk Kultur: Welcher Moment hat Sie bei der Recherche am meisten überrascht?
    Marie Guérin: Als ich in Loguivy-Plougras ankam, dem Ort, wo Jean-Yves Briand, der bretonische Gefangene, herkommt. Ganz wörtlich gesprochen: Ich habe einen Fuß aus dem Auto gesetzt und war schon umzingelt von den richtigen Leuten. Kaum war ich in Loguivy-Plougras angekommen, kettete sich alles aneinander – wie ein Abenteuer.
    Deutschlandfunk Kultur: Auf welche Schwierigkeiten sind Sie bei der Recherche gestoßen?
    Marie Guérin: Auf viele, weil die Archive der Gegenwart und den künstlerischen Verfahren widerstehen. Außerdem sind aus dieser Sammlung schon viele Kunstwerke entstanden. Also musste ich meinen eigenen Weg finden und auf meiner Klangreise immer wieder überprüfen, ob dieser Weg angebracht ist. In dieser Erfahrung versuche ich, mich selbst zu finden, um mich dann in Demut angesichts der Geschichte wieder auszulöschen.
    Deutschlandfunk Kultur: Wie haben die Menschen in der Bretagne reagiert, als Sie auf sie zukamen?
    Marie Guérin: Sie waren sehr offen und spontan und gar nicht überrascht. Die Mittelbretagne ist weit von der Küste entfernt, es ist ein abgelegenes Land und somit ideal für Reportagen. Die Leute öffnen einem sofort die Tür und bieten einem an, bei ihnen zu essen und zu schlafen.
    Deutschlandfunk Kultur: Danach waren Sie auch noch im Halbmondlager in Wünsdorf, einem deutschen Kriegsgefangenenlager, wo insbesondere Soldaten aus französischen und britischen Kolonien interniert waren. Deutsche Sprachwissenschaftler haben mit dem durchaus kritikwürdigen Ziel, alle Weltsprachen in einem Lautarchiv zu sammeln, die Stimmen der Kriegsgefangenen aufgenommen. Was hat Ihre Recherche im Halbmondlager mit "Même morts nous chantons" zu tun? Oder mit der Performance, mit der Sie in Deutschland auf Tour gehen?
    Marie Guérin: In Wünsdorf hatte ich mein Aufnahmegerät dabei und habe meine Reportage fortgesetzt. Die Reportage – diese Qualität des Realen, das die Sound-Reportage ermöglicht – bleibt Träger meiner Erfahrungen und der Variationen und Wiederholungen rund um das Lautarchiv. Ich arbeite an einer Fortsetzung, einer Wiederholung, einer Variation.
    Deutschlandfunk Kultur: Was können Sie schon über die Performance "Recorded Songs Don't Ever Die" verraten, mit der Sie in Deutschland auf Tour gehen? Wie viel wird sie mit "Même morts nous chantons" zu tun haben?
    Marie Guérin: Es ist eine neue Arbeit, sehr radiophon. Anfangs wollte ich mehr in Richtung Musical gehen. Aber eine allzu musikalische Arbeit rund um diese sehr sensible Sammlung trifft auf Widerstände, weil die Geister lieber sprechen wollen…

    Das Interview für Deutschlandfunk Kultur führte Sarah Murrenhoff.

    Eine Weiterentwicklung ihrer Arbeit zeigt Marie Guérin derzeit in verschiedenen Instituts Français in Deutschland.
    Hier die Performance-Termine von Marie Guérin im Überblick:
    2. November 2018 im Institut français Berlin, salle Boris Vian
    3. November 2018 im Haus der Kulturen der Welt, Berlin
    4. November 2018 im Kulturhistorischen Museum Schloss Merseburg
    22. November 2018 im Institut français Stuttgart
    4. Dezember 2018 im Medienzentrum der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn
    5. Dezember 2018 im Institut français Mainz

    (Deutschlandfunk Kultur, Klangkunst, 09.11.2018)