Kirchliche Traumahilfe für Geflüchtete

"Viele weinen, weinen, weinen"

10:54 Minuten
Die Silhouette einer Frau vor einem Fenster. Sie hat den Kopf in die Hand gestützt, ihre Haltung wirkt eingefallen.
Viele Geflüchteten haben traumatische Erfahrungen gemacht. Nun leben sie in Deutschland und müssen in einem neuen Land zurechtkommen. © Picture Alliance / dpa / Klaus-Dietmar Gabbert
Von Ita Niehaus · 18.09.2019
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Viele Geflüchtete sind traumatisiert und brauchen Hilfe. In Lingen arbeitet eine Psychologin aus dem Iran mit Samira aus Afghanistan. Das hilft, Vertrauen zu fassen, auch, da die Sprachbarriere sinkt. Oft fehlt aber, was Traumatisierte am meisten brauchen.
"Alles in Deutschland ist schön, aber mein Leben ist nicht so schön." Samira ist mit ihrer Familie aus Afghanistan geflohen. Über das, was sie erlebt hat, spricht sie nicht. Sie wirkt erschöpft und traurig. Der Antrag auf Asyl läuft noch. Einige Worte Deutsch hat Samira schon gelernt: "Ich bin verheiratet, ich habe zwei Kinder – eine Tochter und einen Sohn."
Die Tochter ist noch klein, der Sohn geht schon in die Schule. Seit gut zwei Jahren lebt Samira mit ihrer Familie in einem kleinen Dorf in der Nähe von Lingen im Landkreis Emsland in Niedersachsen. Zuhause fühlt sie sich dort nicht. Ihr Mann, ein Kfz-Mechaniker, hat keine Arbeit, die Kinder finden keine Spielkameraden. Die junge Mutter trägt Kopftuch. Aus Tradition, den Glauben hat sie verloren.

Katholische Beratungsstelle für alle

Die katholische Psychologische Beratungsstelle in Lingen ist für alle Menschen da – unabhängig von Konfession, Alter oder Herkunft. Samira kommt regelmäßig.
"Ich habe Depressionen und habe Hilfe gesucht. Ich kann hier über mein tiefes Gefühl mit Fereshteh sprechen. Solange ich hier bin, geht es mir gut. Aber wenn ich nach Hause zurückgehen muss, fühle ich mich wieder schlecht. Das Leben wurde für mich sinnlos. Aber ich überlebe für meine zwei Kinder."
Die Gespräche mit der Psychologin Fereshteh Afsar geben Samira etwas Halt. Im Iran war Fereshteh Afsar Dozentin an der Universität. Seit gut drei Jahren arbeitet sie nun in der Beratungsstelle. Zunächst als Praktikantin und Dolmetscherin. Inzwischen ist die Psychologin festangestellt und betreut geflüchtete Menschen – vor allem aus dem Iran und aus Afghanistan. Denn auch dort sprechen viele Persisch.
"Bei den meisten ist der Asylantrag abgelehnt worden, und sie haben große Angst. Wir haben viele Klienten, die setzen sich, weinen, weinen, weinen. Wir können nicht mehr warten, bis wann müssen wir warten, dass eine Antwort kommt", berichtet Fereshteh Afsar.

Zwischen den Kulturen vermitteln

Krieg, Flucht, Folter, der Verlust von Angehörigen – drei von vier Geflüchteten aus Syrien, Afghanistan oder dem Irak haben nach eigenen Angaben traumatische Erfahrungen gemacht, so das Ergebnis einer Studie vom Wissenschaftlichen Dienst der AOK. Sie leiden wie Samira an Schlafstörungen, Ängsten, Alpträumen oder Depressionen.
Es gibt bisher nur wenige Fachkräfte wie die 41-jährige iranische Psychologin Fereshteh Afsar, die sich in Deutschland weiterbilden und zwischen den Kulturen und Religionen vermitteln können. In der Beratungsstelle in Lingen arbeitet sie eng mit ihrer deutschen Kollegin Ellen Geyer-Köhler zusammen. Sie ergänzen sich gut.
"Manche Klienten kommen her und sagen: Deutsche können uns nicht verstehen, weil sie selbst noch nicht Deutsch sprechen", berichtet Afsar. "Ich glaube, das ist sehr wichtig – wenn man die Muttersprache und Kultur kennt, man kann mehr helfen. Man kann gut verstehen, was genau diese Probleme sind."
Ellen Geyer-Köhler erläutert die Bedeutung, die Afsar hat: "Sie spricht sie an, erzählt von unseren Einrichtungen, ist dadurch auch Wegbereiter. Dann gibt es den Frauen ein gutes Gefühl, wenn sie wissen, Fereshteh ist mit im Raum – ich bin nicht allein. Vieles ist fremd – wenn Fereshteh sagt, so ist es okay, hat es noch mal ein anderes Gewicht. Da ist auf jeden Fall ein schnelleres Vertrauensverhältnis da."

Mangel an Traumatherapeuten

2016 kamen die ersten Menschen mit Fluchterfahrung in die Psychologischen Beratungsstellen im Bistum Osnabrück. Die Nachfrage ist groß.
Ellen Geyer-Köhler und Fereshteh Afsar können zwar dazu beitragen, ihre Klienten emotional zu stabilisieren, doch das allein reicht oft nicht aus. Viele Geflüchtete bräuchten Traumatherapien, es fehlt aber an Experten – und zwar bundesweit.
Samira war schon einmal so verzweifelt, dass sie versucht hat, sich umzubringen, danach war sie in einer Klinik. Einmal im Monat begleitet Fereshteh Afsar sie nun zu einem Psychiater.
"Sie sagt mir immer, ich bin wie ein Roboter", berichtet Afsar. "Wenn eine Mutter immer auf dem Stuhl sitzt und keine Kraft und Energie hat, mit den Kindern zu spielen. Zum Elternabend kann sie nicht gehen. Ihr Mann ist krank und sie ist auch krank – ich glaube, wenn ihre Kinder groß werden, sind sie auch ein bisschen krank."

Erziehungsberatung nimmt an Bedeutung zu

Immer mehr an Bedeutung gewinnt daher die Erziehungsberatung. Viele geflüchtete Mütter und Väter haben über Jahre all ihre Kraft in den Kampf ums Überleben gesteckt, die Kinder standen oft hintenan.
"Und in Deutschland wiederholt sich das noch mal. Weil die Eltern immer noch nicht sicher sind, viele Fragen haben", erklärt Geyer-Köhler.
"Für Kinder vergeht so viel Zeit, wichtige Entwicklungszeit. Da ist es sehr wichtig, immer wieder zu sagen: 'Schaut Euch Euer Kind jetzt an, es braucht Euch jetzt und wartet nicht, bis der Aufenthaltsstatus geklärt ist, sondern fangt jetzt an."
Nicht nur Einzelgespräche, auch Elternabende werden angeboten. Um sich auszutauschen, etwa darüber, wie Erziehung gelingen kann. Geyer-Köhler bringt ein Beispiel. "Eine Mutter hat gesagt: 'In Deutschland haben alle Kinder ein Kuscheltier. Ich habe meinem Kind ein Tier ins Bettchen gelegt und das will es nicht, was habe ich falsch gemacht?' Und das war eine ganz spannende Frage, wo wir dann gut in einen Austausch und einen Dialog kommen konnten. Gerade die afghanischen Frauen sagen, wir haben keine Schule besucht, wir sind nicht erzogen worden. Und haben mitbekommen, Schläge, körperliche Gewalt geht nicht, ja, was geht denn dann?"

Verunsicherung angesichts des Neuen

Die Verunsicherung ist manchmal groß. Einige Mütter öffnen sich mehr für das Neue, andere weniger. Je nachdem, wie belastet sie gerade sind. Manchmal gibt es auch Konflikte mit Lehrern in der Schule. Zum Beispiel, so Fereshteh Afsar, wenn Eltern ihren Sohn unter Leistungsdruck setzen – weil er es einmal im Leben besser haben soll.
"Der Lehrer sagt, du musst zuhause nur spielen, aber seine Eltern sagen, du musst viel lernen", schildert Fereshteh Afsar einen Fall. "Er wollte zum Sport gehen, darf nicht. Sie hat gefragt, was soll ich machen? Ich sage, du musst Vertrauen haben zur Lehrerin. Man kann auch mit Spielen viel lernen."
Die Beziehung zwischen Kindern und Eltern zu stärken, braucht Zeit. Und viel Unterstützung. Auch im Kindergarten. Es sei wichtig, Mütter und Väter da mehr mit einzubeziehen, um die kulturellen Unterschiede gemeinsam zu bewältigen.
Ellen Geyer-Köhler plädiert dafür, "dass den Familien etwas an die Hand gegeben wird. Nicht dass sie sagen, ich habe es im Kindergarten aber so gelernt, dieser Entfremdungsprozess innerhalb der Familie dadurch gefördert wird."

Asylverfahren ziehen sich

Die Herausforderungen sind groß, die Möglichkeiten zu helfen begrenzt. Die meisten Asylverfahren ziehen sich lange hin, viele Anträge werden vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge abgelehnt.
Die Bescheide seien oft schwer nachzuvollziehen, sagt Christoph Hutter, der Leiter der Psychologischen Beratungsstellen im Bistum Osnabrück. "Wir arbeiten mit Leuten inzwischen drei bis vier Jahre, die bis heute einen ungeklärten Bleibestatus haben – was für traumatisierte Menschen eine völlige Katastrophe ist. Was traumatisierte Menschen brauchen, ist Sicherheit, ein Ort, wo sie endlich ankommen können und wo wir endlich an den Symptomen so arbeiten können, wie es den Regeln der psychotherapeutischen Kunst entspricht."
Das vor kurzem vom Bundestag beschlossene Geordnete-Rückkehr-Gesetz erleichtert die Abschiebung von psychisch erkrankten Geflüchteten. Es werde nun noch schwieriger, die seelischen Auswirkungen schwerer Gewalt im Asylverfahren geltend zu machen, kritisieren die Bundespsychotherapeutenkammer und die Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer.
Auch Christoph Hutter stellt fest: die Willkommenskultur lässt nach, es fehlt an Unterstützung von Politik und Gesellschaft. "Am Anfang war es so, dass hier Hunderte von Menschen waren, die Brötchen geschmiert haben und sich für die Alltagsversorgung eingesetzt haben. Aber jetzt brauchen wir mittelfristige Konzepte, wie wir eine wirkliche Integrationsarbeit vorantreiben und leisten können. Und die Art und Weise, wie wir entweder vom politischen Radar verschwinden oder aber wie unsere Arbeit sogar torpediert wird – ganz, ganz schwierige Rahmenbedingungen."

Zukunft

Und dennoch, auch Samira aus Afghanistan sieht ihre Zukunft erst einmal in Deutschland. "Ich wünsche mir, dass meine Kinder hier aufwachsen und dass ich Deutsch lerne – ein ruhiges Leben für meine Familie in Deutschland." Samira geht es inzwischen besser. Die Gespräche helfen ihr und auch die Medikamente.
Christoph Hutter und Fereshteh Afsar wollen sich weiter engagieren – auch wenn die Hürden hoch sind.
"Ich glaube, dass es Vieles gibt, wo spätere Generationen nicht verstehen werden, dass wir so lange gezögert haben, sichere Rahmenbedingungen zu schaffen", sagt Hutter: "Obwohl klar ist, auch aus vorhergehenden Generationen, die in Deutschland eingewandert sind, was diese Menschen eigentlich brauchen, um langfristig festen Boden unter den Füßen zu kriegen."
"Ich versuche immer, Hoffnung zu geben", erläutert Afsar. "Und ich sage immer, hier ist Deutschland, es ist ganz anders als Iran und Afghanistan. Deutsche haben einen Satz: Schritt für Schritt."

Für Online leicht bearbeitet (mfu)

In Jugenheim in Rheinland-Pfalz hat Sabine Klein ein Lernförder-Projekt für Kinder aus einheimischen und Flüchtlingsfamilien ins Leben gerufen. Finanziert wird das aus Mitteln der Integrationspauschale. Mitstreiter Uli Röhm sagt, den Gründern sei wichtig gewesen, "dem Vorurteil ‚Ihr macht ja nur was für Flüchtlinge‘ entgegenzutreten." Die Erfahrung habe gezeigt, dass der Ansatz nicht nur den Spracherwerb, sondern auch die Integration fördert. Anke Petermann berichtet.

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