Kirchliche Altenarbeit geht neue Wege

Von Gisela Keuerleber · 27.07.2013
Die junggebliebenen Senioren in Deutschland sind zwar eher kirchenfern, aber sozial interessiert und engagiert. Dieses Interesse bedient ein Netzwerk von Ruheständlern in Mühlheim an der Ruhr. Die Mitglieder widmen sich anderen Senioren und sprechen dabei auch über den Glauben.
Altenkreis-Leiterin Renate: "Die Frauen kommen deshalb in die Gruppe, weil sie in den meisten Fällen verwitwet sind, und sie sind vereinsamt. Sie suchen Abwechslung, Gemeinschaft, Ablenkung."

Kaffeetrinken, Handarbeiten und gemeinsame Ausflüge mit dem Pfarrer oder der Pfarrerin - das war und ist traditionelle Altenarbeit in den Kirchen. Dabei ist Fürsorge der Leitgedanke. Aber was bieten die Kirchengemeinden für diejenigen Senioren, die sportlich und fit sind und aktiv ihre Zeit gestalten möchten?

"Ich mag den Begriff Senioren nicht besonders / Wann fängt das an? So fühlen sich die Alten ja gar nicht / Ich bin heftig ehrenamtlich tätig, ich habe nicht das Gefühl, zum alten Eisen zu gehören. Ich bin Lesementorin bei einem albanischen Mädchen, das macht Spaß."

"Ich bin mit Rock ’n‘ Roll groß geworden, Bill Haley, Elvis Presley / Chuck Berry, ja, das sitzt auch noch immer in den Knochen drin, wenn Rockmusik kommt, dann zuckt es in den Beinen. Das ist so. UKW halb sieben, ja das war meine geheiligte Stunde."

Die Biografien dieser jungen Alten zeichnen sich aus durch einen sogenannten Traditionsbruch. Die heute 60- und 65-Jährigen wurden mit Rock ‚n‘ Roll und Beatles groß, sie haben über sexuelle Revolution, Feminismus und Studentenrevolte diskutiert, manche haben vielleicht eine zeitlang in Wohngemeinschaften gelebt. Viele in dieser Generation haben eine liberale und säkulare Haltung. Die Soziologen nennen sie ‚Silver Ager’ - oder auch ‚Best Ager’. Sie achten auf ihre Gesundheit, entdecken gerne Neues, vor allem auf Reisen, aber sie sind auch sehr sozial eingestellt und engagieren sich ehrenamtlich.

"Im kirchlichen Gemeindeleben finden die Vielfalt der neuen Lebensentwürfe ihren Niederschlag in einer geringeren Präsenz dieser Altergruppe bei gemeindlichen Aktivitäten und beim Gottesdienstbesuch."

Heißt es im Bericht einer Arbeitsgruppe der Diakonie Hessen zum Thema "Leben im Alter". Und weiter:

"Aktivitäten , die für frühere Altengenerationen obligatorisch waren, werden von den neuen Altengenerationen eher zurückhaltend genutzt, weil sie dem heutigen Lebensstil nicht mehr entsprechen."

Kirchengemeinden setzen deshalb auf Netzwerke - Anlaufstellen für eine Generation, die eher kirchenfern und säkular eingestellt ist, aber ein großes soziales Engagement zeigt. In einem Stadtteil in Mülheim an der Ruhr ist das Konzept äußerst erfolgreich:

"Die Gemeinde Saarn hat ein Netzwerk für Menschen im nachberuflichen Leben geschaffen, eine Anlaufstelle, wo Menschen zusammenkommen und gucken, was möchten wir gemeinsam machen, was sind unsere gemeinsamen Interessen, wo möchten wir uns möglichweise engagieren."

Diakonin und Sozialpädagogin Ragnhild Geck erzählt vom Aufbau des Netzwerkes. Die evangelische Gemeinde hatte die Idee in der Presse bekannt gemacht, worauf sich bald über hundert interessierte Ruheständler meldeten. Es entstanden viele unterschiedliche Gruppen, je nach Interesse:

Ein paar Stunden Zeit verschenken
Die 67-jährige Ingeborg Franken engagiert sich im Projekt "Kulturkoffer". Ihr nostalgisch aussehender brauner Lederkoffer ist gefüllt mit Souvenirs: Postkarten und Fotos einer Karibikreise, eine Kokosnuss, wunderschön gezackte Muscheln und orange leuchtende Schneckengehäuse, in Gläschen hat sie Kakao-und Kaffeebohnen abgefüllt.

"Ich habe diesen Koffer gepackt, der Reise meines Lebens, weil das eine Reise von meinen vielen Reisen ist, die mir im Herzen geblieben ist. Und sehr nahe gegangen ist, ich bin in ein Land gereist…"

Sie erzählt von einem 11-jährigen Jungen, den sie in der Dominikanischen Republik auf einer Reise kennen gelernt hat. Der kleine Geschäftsmann musste mit Souvenirverkäufen seine ganze Familie ernähren. Ein Schicksal, das Ingeborg Franken berührte. Für sie selber waren ihre Reisen notwendige Atempausen - denn sie hat neben ihrem Halbtagsarbeit 15 Jahre lang ihre Mutter gepflegt. Jetzt ist sie im Ruhestand und will mit ihrem Koffer Erinnerungen mit denjenigen teilen, die zu alt oder zu krank sind, um jemals noch eine Reise zu erleben.

Sie besucht eine betagte Bewohnerin des Fliedner-Dorfs, einer Alten-, Pflege- und Behinderteneinrichtung der Theodor-Fliedner-Stiftung. Ingeborg Franken zeigt ihre Souvenirs und erzählt von der großen Armut der Karibikinsel. Die alte Frau, die im Krieg aus Ostpreußen fliehen musste, hört aufmerksam zu, immer wieder findet sie Anknüpfungspunkte und erzählt von ihren Erfahrungen. Ja, Armut kenne sie gut, sagt sie:

"...und da sind wir nachts in den Wald und haben Bäume abgesägt, damit wir was zum heizen hatten...(Franken weiter) und so haben die Menschen da auch in Armut gelebt."

Es kommt eine lebhafte Unterhaltung in Gang, immer wieder kommen der alten Dame Erinnerungen und Bilder aus der früheren Zeit. Hier ist Raum zum Zuhören und Gedanken schweifen lassen:

"Ich kann mich erinnern in meiner Kindheit da gingen auch - hauptsächlich Männer - herum und hatten um den Hals so einen Korb und da war allerlei drin, was sie verkauft haben, (Franken) ja die Hausierer...ja, ja...."

Eine Stunde dauert der Besuch bei der alten Dame. Für Ingeborg Franken ist es der zweite Einsatz mit dem Kulturkoffer. Auf die Frage, ob so etwas für sie ein Akt christlicher Nächstenliebe sei, lächelt sie und wehrt ab: Nein, nein, sie sei ja keine Pfarrerin, sie schenke einfach nur ein paar Stunden ihrer Zeit.

"Wenn ich da merke , da kommt was zurück, diese Freude, ja, Freude und Gefühl auch , Interesse vor allen Dingen, dass die auch nachfragen, das ist für mich so ne , ich will nicht sagen Selbstbestätigung, aber macht mir wieder Freude."
"Und ich hab jetzt die Erfahrung hier in diesem Wohnen im Alter und da beschäftige ich mich mit meinem Alter auch. Ist ja vielleicht gar nicht mehr lange hin, ich bin jetzt 67."
Wenn Ingeborg Franken selber einmal nicht mehr mobil sein wird, kann sie darauf hoffen, dass sie Besuch von Jüngeren bekommt und etwas von dem zurück bekommt, was sie jetzt anderen schenkt. Denn das Motto, das solchen Netzwerk-Projekten zugrunde liegt, heißt: Ich tu etwas mit anderen für andere – und am Ende, wenn die Aktiven dann selber betagt sind, heißt es: Andere tun etwas mit anderen für mich.

"Wir haben die Rentenversicherung, die Krankenversicherung, die Lebensversicherung, was aber im Alter häufig fehlt, ist so was wie die soziale Vorsorge."

Netzwerkarbeit könnte Religion wieder bedeutsamer machen
Gabriele Winter von der Diakonie Rheinland und Westfalen Lippe. Angesichts des demografischen Wandels - in Zukunft werden in Deutschland immer mehr ältere Menschen leben - könne Lebensqualität nur erhalten werden, wenn sich Menschen aller Generationen, Kulturen und Milieus aktiv an der Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens beteiligen, sagt sie.

Aber was ist das spezifisch kirchliche oder evangelische an dieser Netzwerkarbeit?

"Unserem christlichen Verständnis nach ist es wichtig, dass wir Orte der Begegnung und auch Orte der Krisenbewältigung schaffen und das tun wir auch, denn Netzwerke sind ja anders als so eine VHS-Struktur, wo Leute Kurse machen und dann gehen sie wieder. Das tun sie nicht, sie bauen ja etwas auf. Und wir erfahren eigentlich immer mehr in den Netzwerken, dass gefragt wird, wer ist eigentlich der Träger, und nehmen wir an , es ist ein diakonisches Netzwerk, dann können sie Zugänge im Grunde auch zu Glaubenfragen kriegen. Denn eins ist klar, das Alter ist krisenhaft, da kommen ethische Fragen, Sinnfragen, und was ist wenn ich nicht mehr kann?"

Schaffen es die Kirchen, mit ihren Angeboten und Netzwerken die Menschen jenseits ihres Berufslebens bis ins hohe Alter zu begleiten, dann könnte für manche auch die Religion an Bedeutung gewinnen.

"Religiosität im weiten Sinne verstanden als die Frage nach Sinnstiftung, hält eben die Frage nach Deutungsmustern für das Altern wach, die helfen mit Dankbarkeit das Leben zu bilanzieren, das eigene Leben als verdanktes Leben zu verstehen und damit auch gnädiger auf die Brüche und Fragmente des Lebens zu schauen, auf das Nichtgelingen. Und da kann Religion mit Hilfe der Perspektive des Transzendierens des eigenen Lebens erhebliche Hilfestellung leisten."

Die Theologin Martina Kumlehn. Das eigene Leben in einen größeren Zusammenhang einzuordnen sei entlastend - und die Gemeinschaft mit anderen:

"...weil eben religiös verbundene Menschen sind oft in starken Gemeinschaften beheimatet und es da Korrelationen gibt, eben aufgehoben zu sein, Annahme der Person zu erfahren, im Gottesdienst loslassen zu können, eine spirituelle Ausdrucksform zu haben für das Unverfügbare im Leben. Religion als Kultur des Sichverhaltens zum Unverfügbaren. Symbole dafür zu haben, Erzählungen dafür zu haben, die das Unverfügbare sagbar machen, das eigentlich Unsagbare sagbar machen."

Auch wenn die jungen Alten eher kirchenfern orientiert sind, die Kirchen bleiben für sie offen. Gabriele Winter von der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe:

"Es gibt sicher eine Tendenz zur Säkularität, aber es gibt ein Gespür bei diesen Menschen für das Soziale. Und wenn es uns gelingt, dieses Gespür für das Soziale aufzugreifen und wahrhaftig und authentisch mit den Menschen umzugehen, dann ist die Frage nach der kirchlichen Ausrichtung eine sekundäre aber es ist eine, die irgendwann gestellt wird. Und da sind wir denn da, im Idealfall."
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