Kirchenkritische Kunst

Vom Gotteslob zum "Gottesloch"

Schrägansicht auf die Installation "Gottesloch" von Georgia Krawiec. Zu sehen ist ein hellgraues Liederbuch mit einem goldenen Kreuz auf dem Cover, in dessen Mitte ein Loch ist. Darunter der Titel "Gottesloch".
Für die Künstlerin Georgia Krawiec war Religion eine traumatische Grunderfahrung. Diese verabeitet sie u.a. in ihrer Serie "Gotteslöcher". © Georgia Krawiec
Von Martin Sander · 13.01.2019
Liederbuch wird Lochkamera: In Kunstobjekten verleiht Georgia Krawiec ihrer Kritik an der Kirche eine konkrete Gestalt. Eine Serie nennt sie "Gotteslöcher". Sie geht auf traumatische Erlebnisse ihrer katholischen Kindheit in Polen zurück.
Georgia Krawiec arbeitet als Fotokünstlerin in Berlin. Aufgewachsen ist sie in einer deutsch-polnischen Familie im oberschlesischen Kędzierzyn-Koźle.
Krawiec: "Da ich ja mit 16 noch ganz normal zur Kirche ging, hab ich schon mal auf der Kirchenbank gesessen und hab auf das Gotteslob geschaut. Das Gotteslob ist ja – nur zur Erklärung – das Kirchenbuch der Katholischen Kirche, wo alle Lieder aufgelistet sind sowie Grundsätze, das Wichtigste für die Messe eigentlich. Gotteslob heißt das. Das steht meistens auf dem Buch obendrauf. Und ich hab dann da draufgeschaut, und hab immer so Spielereien gemacht mit dem Gotteslob als Kompositum."
Religion ist für Georgia eine traumatische Grunderfahrung, die sie mithilfe der Fotografie verarbeitet, genauer gesagt mithilfe der Lochkamera. Eines ihrer aktuellen Projekte heißt "Gotteslöcher".
Krawiec: "Wenn man die Augen so zusammenzwinkert, kann man sich auch Sachen einbilden. Und für mich sah das immer so aus wie ein Gottesloch. Mit 16, wenn man noch so an Gott glaubt, ist das irgendwie so ein Sakrileg, wenn man sich das vorstellt, "Gottesloch", das hört sich nicht gut an. Aber ich hab immer schon gedacht, das ist total faszinierend. Da fällt irgendwas rein und kommt nie wieder raus."

Löcher im Gotteslob

Georgia Krawiec fotografiert seit vielen Jahren und verzichtet dabei auf neuere technische Errungenschaften. Um Bilder aufzunehmen benötigt sie nicht einmal eine Linse. Ihre Lochkameras funktionieren nach einem Prinzip, das einst Aristoteles entdeckte: Dunkelt man einen Raum ab, während durch ein kleines Loch Licht hindurchscheint, entsteht seitenverkehrt ein Bild.
Auf dem Gelände der Spandauer Zitadelle im Westen Berlins steht voller selbstgebauter Lochkameras. Für das Projekt "Gotteslöcher" hat die Künstlerin Gotteslob-Bücher gekauft. Die hat sie durchbohrt und ausgehöhlt, um so den Lochkamera-Effekt zu erzielen.
Georgia Krawiec vor ihren Chemogrammen aus dem Projekt TRINITY TEST in der Berliner Galerie ep.contemporary im März 2018
Georgia Krawiec vor ihren Chemogrammen aus dem Projekt TRINITY TEST in der Berliner Galerie ep.contemporary im März 2018© Georgia Krawiec
Krawiec: "Ich hol mal so ein Buch heraus. Hier haben wir eben so ein Gotteslob-Buch mit einem Kreuz mittendrin, mit einem Verschluss, wo dahinter sich das Loch befindet. Das Loch ist ganz klein, ein Fünftel Millimeter groß. Die Verschlüsse sind dafür da, damit die im Normalfall nur dann geöffnet werden, wenn man auch fotografieren möchte, also wie das Auslösen des Fotoapparats. Auf den Verschluss habe ich Wörter genommen, die wiederum mit dem jeweiligen Gebot zu tun haben, worauf sich das Buch bezieht. Also, die einzelnen Bücher sind durchnummeriert nach den Geboten. Und in den Hohlraum kommt Fotopapier oder auch Fotofilm."
Als Georgia Krawiec ihre "Gotteslöcher" unlängst in Berlin ausstellte, hat sie den Besuchern angeboten, einige Minuten auf einem ausrangierten Gebetsstuhl zu knien und sich dabei von den zur Kamera umgewandelten Gotteslob-Büchern ablichten zu lassen.
Krawiec: "Da die einzelnen Gottesbücher, Gotteslöcher, zu bestimmten Geboten gemacht wurden, sollten Freiwillige kommen und mir von ihren Sünden erzählen. Und je nachdem, welche Sünden vorgefallen sind, habe ich dann die passende Kamera gefunden, und die hat dann belichtet. Ich bin davon ausgegangen, dass vielleicht fünf Leute kommen an dem Tag, wo die Aktion stattfand. Es ist überraschenderweise so gewesen, dass die Galerie voller Menschen war. Und ich hab gar nicht geschafft, alle zu fotografieren, die ich gern fotografiert hätte."

Therapeutisches Happening

Indem die Besucher sich aus dem Gottesloch heraus porträtieren lassen, nehmen sie an einem Selberfahrungs-Happening teil. Dieses Happening hat therapeutische Qualität – auf jeden Fall für die Künstlerin.
Krawiec: "Es ist ein spielerischer Umgang mit Kindheitstraumata, die irgendwie im Laufe des Lebens verarbeitet werden müssen, wenn die Kirche als eine große Kontrollinstanz das Leben der Menschen so indoktriniert hat, wie es eben im Polen der 70er, 80er Jahre gewesen ist, dann ist ein Kirchenbuch mit einem Loch versehen, das alles sieht - das ist ein spielerischer Umgang mit der Vergangenheit."
Von der katholischen Kirche indoktriniert fühlte sich Georgia Krawiec vor allem in ihrer ursprünglichen Heimat in Oberschlesien. Auch das Leben in ihrer Familie, die kurz vor der Wende nach Westdeutschland übersiedelte, war sehr von der Autorität der Kirche geprägt.
Krawiec: "Ich komme aus einer sehr streng katholischen Familie, wo meine Eltern in bestimmten Monaten, das sind so vier Monate im Jahr, wirklich täglich in die Kirche gegangen sind, und die Kinder eben zum Teil eben auch sehr häufig mit. Und wenn man in einer solchen Familie aufwächst, dann ist man auch gehemmt. Die Kirche ist gleich Gott. Diese Gleichsetzung verbietet es einem Kind sowieso, da solche ‚verdächtigen‘ und ‚gefährlichen‘ Fragen zu stellen."

Gottes Augen sind überall

Aber sie kann auch inspirierend wirken. Georgia Krawiec umspielt das Thema Kontrolle durch Kirche und Gesellschaft in beachtlicher Vielfalt. Für ein weiteres Ausstellungsprojekt unter dem Titel "Gottes Augen" etwa hat sie Lochkameras als kleine Pyramiden aus Leder, Holz oder Kunststoff gefertigt. Allsehende Augen in der Dreiecksform eines Tetraeders symbolisieren im Christentum die Dreifaltigkeit. Sie zielen auf eine göttliche Kontrolle des menschlichen Gewissens. Allerdings: Auch die religionskritischen Aufklärer, allen voran die Freimaurer, haben dieses Symbol beansprucht.
Vielleicht, mag man angesichts dieser Pyramidenkameras denken, ist es gar nicht entscheidend, ob einen die Kirche im Namen Gottes oder die Gesellschaft im Namen der Aufklärung beaufsichtigt. Georgia Krawiec stellt mit ihrer Lochkamera-Photographie das Prinzip der Kontrolle an sich in Frage. Ihre Arbeit lässt sich auch als Protest gegen den durch seine Kameras allgegenwärtigen Überwachungsstaat der Gegenwart deuten. Dennoch: Die Urquelle der Empörung bleibt für die Fotokünstlerin ihre Erfahrung mit der Religion.
Georgia Krawiec: "Wenn man in einem ewigen schlechten Gewissen aufgezogen wird, dass jeder Schritt und jede Handlung auch Böses mit sich bringen kann, was dann eben bestraft werden kann, und das im Alter von drei oder fünf Jahren, das kann man nicht so abschütteln. Ja, die Kirche, das ist - ein Fass ohne Boden."
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