Kinokolumne Top Five

Charles Dickens – der Urvater der Filmerzähler

05:25 Minuten
Oliver Twist und Artful Dodger stromern durch die Stadt.
Kinderarbeit, Verbrechen und systemische Armut: "Oliver Twist" nach dem gleichnamigen Roman von Charles Dickens in der Verfilmung von Roman Polanski. © picture alliance/ United Archives
Von Hartwig Tegeler · 19.09.2020
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Dutzende Male wurden "David Copperfield" oder "Oliver Twist" fürs Kino und Fernsehen verfilmt. Charles Dickens' Klassiker werden von Filmemachern als Vorlage für ihre Geschichten geliebt. Hartwig Tegeler nennt die besten.

Platz 5 – "David Copperfield" von George Cukor (1935)

Klassisches Schwarz-Weiß-Hollywood-Kino und nach drei Stummfilmen die erste Tonverfilmung der Geschichte des leidgeprüften David Copperfield, der erst nach diversen Niederlagen zu seinem Lebensglück findet. Georges Cukors "David Copperfield" war bei Kritik wie Publikum ein riesiger Erfolg, was natürlich auch der erlesenen Gilde der Stars der 1930er-Jahre geschuldet war: Lionel Barrymore, W. C. Fields und Basil Rathbone. Letzterer als hinterhältiger Stiefvater, der David zum Arbeiten als Flaschenreiniger nach London schickt.
Dieser ersten Literaturverfilmung von Hollywood-Tycoon David O. Selznick, der die Bedeutung dieses Genres für den Erfolg im Kino genau verstand, folgten viele. Beispielsweise vier Jahre später "Vom Winde verweht".

Platz 4 – "Flucht aus Paris" von Jack Conway (1935)

Hollywood liebte schon immer Charles-Dickens-Verfilmungen. Im gleichen Jahr wie "David Copperfield" – 1935 – produzierte David O. Selznick "Eine Geschichte aus zwei Städten". Gemeint sind Paris und London. Die Liebesgeschichte auf dem Hintergrund der Wirren der Französischen Revolution beeindruckt immer noch mit ihrer Wucht, was natürlich auch mit diesen riesigen Massenszenen im Paris der Revolutionszeit zu tun hat, die mit einem Heer von Komparsen – analog, ganz und gar analog und heute unbezahlbar – gedreht wurden. Der Stellvertretertod der Hauptfigur unter der Guillotine verströmt heute noch eine große Traurigkeit. Was mal wieder zu beweisen war: Klassiker … nie erledigt.

Platz 3 – "Große Erwartungen" von Alfonso Cuarón (1998)

Die Geschichte des Waisenjungen Pip, der sich schon als Junge in Estella verliebt. Sie wurde zu einem eiskalten Wesen erzogen, der Pip verfallen ist, als er eine Karriere als Künstler in New York macht.
Alfonso Cuarón überträgt den 1860/61 erschienenen Dickens-Roman mit Ethan Hawke und Gwyneth Paltrow ins Heute. Eine Adaption, die allerdings das Dunkel-Realistische vermissen lässt, das Dickens-Stoffe auszeichnet. Das Ende dieser Adaption hat zu sehr den Weg zum Hollywood-Liebeskitsch genommen.

Platz 2 – "Nicholas Nickleby" von Douglas McGrath (2002)

Den Nicklebys ist kein Glück beschieden: Der Tod des Vaters in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts treibt die Familie in die Arme des betuchten Onkels Ralph. Wenn Nicholas ihm für die Hilfe dankt, dann klingt seine Antwort "Das werde ich auch nicht" wie eine Drohung. Und so ist sie auch gemeint. Nicholas, gespielt von Charlie Hunnam, lernt Smike (Jamie Bell) kennen, der körperlich behindert ist. "Wir müssen immer hoffen!", sagt Nicholas zu Smike. Die Hoffnung wird sich in dieser Dickens-Verfilmung als die Kraft herausstellen, die die Unbilden des Schicksals überwinden hilft.
Spannend auf dem dornenreichen Weg hin zu den Hochzeiten von zwei Paaren am Ende ist die Begegnung mit dem kaltherzigen Onkel, der von Christopher Plummer als komplexer Bösewicht "gegeben" wird. Charles Dickens wusste lange vor seinen Nachgeborenen, den Filmerzählern, dass eine Geschichte aus dramaturgischen Gründen zum Hoffnungsträger den Kontrapunkt braucht. Onkel Ralph in "Nicolas Nickleby" ist deswegen so eine wichtige Figur wie der Bandenführer Fagin in der Erzählung über den Waisenjungen.

Platz 1 - "Oliver Twist" von Roman Polanski (2005)

Die Erfahrung des Ausgegrenztseins von Roman Polanski als Junge im Krakauer Getto, die Gefahr der Lebensbedrohung und Vernichtung, sie scheinen sich förmlich einzulagern in seine Version des Lebens des einsamen Waisenjungen Oliver Twist, der in die Hände des Londoner Bandenführers Fagin, gespielt von Ben Kingsley, gerät. Der erste Roman von Charles Dickens.
Eine Geschichte über Kinderarbeit, Verbrechen und systemische Armut in den Zeiten der Frühindustrialisierung, dieser Stoff in den Händen von Polanski: Man könnte im Nachhinein das Gefühl haben, dass das etwas werden musste. Das es gar nicht anders kommen konnte. "Oliver Twist" diente seit 1909 mehr als 25 Mal für Kino und TV als Vorlage. Roman Polanskis Verfilmung ist eine große Charles-Dickens-Adaption.
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