Kinofilm "Nur eine Frau"

Von der Sehnsucht, einer Toten zuzuhören

10:13 Minuten
Aynur (Almila Bagriacik) im Kreise ihrer Schwestern; Szene aus "Nur eine Frau" von Sherry Hormann
Aynur (Almila Bagriacik) im Kreise ihrer Schwestern; Szene aus "Nur eine Frau" von Sherry Hormann © Mathias Bothor / NFP
Sherry Hormann im Gespräch mit Susanne Burg · 04.05.2019
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Als so genannter "Ehrenmord" wurde das Schicksal der 23-jährigen Berlinerin Hatun Sürücü im Jahr 2005 bekannt. Der Spielfilm "Nur eine Frau" erzählt das Leben der jungen Frau Leben an Originalschauplätzen in Berlin-Kreuzberg und gibt der Ermordeten eine Stimme.
Susanne Burg: Am Donnerstag kommt der Spielfilm "Nur eine Frau" in die Kinos. Und er beginnt so:
Einspieler: Mein Name ist Hatun, Hatun Sürücü, aber Hatun sagt keiner zu mir. Alle nennen mich Aynur. Mein Bruder hat mich erschossen, im Februar 2005. Ich war ein Ehrenmord, der erste, der so richtig fett Presse hatte. Vielleicht erinnert ihr euch? Vielleicht war ich euch damals schon egal. Vielleicht denkt ihr: Na und, alles schon so lange her, kann die nicht einfach tot bleiben? Stimmt, ich bin tot. Habe ich mir auch anders vorgestellt, aber eine Sache ist gut daran: Ihr sitzt vor mir und hört zu. Also willkommen, willkommen in Deutschland.
Burg: Wir sitzen vor ihr und hören zu, hören und sehen die Geschichte von Aynur, die Geschichte einer jungen Frau, die mit ihren acht Geschwistern und ihren Eltern, religiösen sunnitischen Kurden, in Berlin-Kreuzberg lebt und die nach der achten Klasse verheiratet wird, die der Gewalt der Ehe entflieht und versucht, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Regie geführt hat Sherry Hormann, die vor zehn Jahren auch den autobiografischen Roman "Wüstenblume" verfilmt hat. Wie hat sie 2005 eigentlich den Fall Hatun Sürücü wahrgenommen?
Sherry Hormann: Als Fall, genau so, ein Fall und aus der Sicht der Täter und nicht aus der Sicht der Ermordeten.

"Der Begriff der Schande war mir sehr fremd"

Burg: Dann gab es diesen Gerichtsfall. Es gab danach – sehr viel später, 2011 – ein Buch über den Fall, nach Recherchen der Journalisten Matthias Deiß und Jo Goll: "Ehrenmord. Ein deutsches Schicksal". Was hat Sie dann dazu gebracht, ein Filmprojekt voranzutreiben?
Hormann: Es gab ja in der Vergangenheit einen sehr guten Kinofilm, "Die Fremde" von Feo Aladag. In den zehn Jahren hat sich wahnsinnig viel verändert in unserer deutschen Gesellschaft, und Begriffe wie "Parallelgesellschaften" und "die Ohnmacht" und "die Anderen" haben sich so zugespitzt. Und ich dachte, das kann doch jetzt nicht wahr sein, dass das schon Teil unseres Sprachgebrauchs wird.
Ich finde auch den Begriff Ehrenmord so unsäglich, weil: Was ist daran eine Ehre? Und wir nehmen das irgendwie so locker in den Mund. Und ich dachte, als die Sandra Maischberger mich ansprach 'Sherry, könntest du dir vorstellen, darüber einen Film zu machen?' - da habe ich gesagt 'Oh, da müssen wir eine komplett neue Perspektive finden'. So entstand dann relativ schnell, nachdem ich einiges gelesen hatte im Vorfeld, mich informiert hatte, die Idee, dass wir Aynur eine Stimme geben, dass sie uns ihre Geschichte erzählt.
Burg: Sie redet aus dem Off und macht auch ein paar Kommentare darüber, wie wir jetzt den Fall oder ihr Leben sehen werden. Sie spricht uns direkt an. Wie haben Sie sich dieser Perspektive von Aynur angenähert?

Hormann: Für mich ist "Nur eine Frau" – und das sagt ja auch schon der Titel –, es geht um eine Frau, eine Frau, die in unserer Stadt lebt, Berlin, mittendrin. Eine Frau, die hier auf das Gymnasium gegangen ist und mit 15 nach Istanbul geschickt wurde, um einen Mann zu heiraten, den sie kaum kannte, ihren Cousin, einer ihrer vielen, zurückkommt, hochschwanger mit 16, und die Familie beschließt, diese Frau, dieses junge Mädchen wird nicht mehr auf die Straße gehen, weil sie Schande gebracht hat.
Die Schauspielerin Almila Bagriacik
Die Schauspielerin Almila Bagriacik© Mathias Bothor / NFP
Dieser Begriff der Schande war mir sehr fremd, den wollte ich beleuchten. Was bedeutet das, wie kommen Menschen dazu zu denken, dies sei Schande? Unabhängig von dem Glauben, unabhängig von einer Religion.
Würden wir diese Geschichte nun weitererzählen, dann wäre es eine junge Frau, die acht Jahre später auf offener Straße in Berlin von dem Bruder erschossen wurde, der ihr Lieblingsbruder war, den sie mit großgezogen hat, den sie ins Bett gebracht hat, dann wäre es kein Fall, dann wäre es 'Oh je…'.
Jetzt hat dieses Mädchen aber einen kurdisch-sunnitischen Hintergrund, dieses Mädchen hat ein Kopftuch getragen, dieses Mädchen hat das Kopftuch abgelegt. Und jetzt beginnen schon die Wertungen. Das hat mich interessiert.

"Diese junge Frau war die Jeanne d’Arc der Berliner Hinterhöfe"

Burg: Florian Oeller hat das Drehbuch geschrieben, er hat auch recherchiert. Und im Film selber gibt es fiktive Bestandteile, sie machen den größten Teil aus, aber auch dokumentarische. Zwischendurch sind Aufnahmen Hatun Sürücü zu sehen, ein Privatvideo, das sie mit ihrem Freund auf dem Dach zeigt. Warum haben Sie oder wie haben Sie die Erzählform entschieden?
Hormann: Ich bin kein Dokumentarfilmer. Und wir wussten, wir werden viel mit diesem Originalmaterial arbeiten. Wir wussten, die Dialoge und alles, was wir im Film zeigen, ist auf diesen Gerichtsakten und den Zeitzeugenaussagen basierend. Ich habe sehr schnell entschieden: Wir werden auch an Originalschauplätzen drehen.
Das zwingt einen aber auch in ein neues Denken über die Ästhetik. Und das zwingt einen auch, keinen Betroffenheitsfilm über ein Opfer zu machen, sondern zu sagen, diese junge Frau war die Jeanne d’Arc der Berliner Hinterhöfe. Diese junge Frau hat gesagt 'Ich bestimme mein Leben, nicht ihr besitzt mich, im besten Falle besitze ich mich selbst, aber ich weiß gar nicht, wie ich mich besitze…' - und das war der Trigger, diesen Film zu machen.

Burg: Sie haben viel in Berlin-Kreuzberg gedreht. Was hat das mit den Schauspielern angestellt, an den realen Orten zu drehen, sich in einen realen Film oder in eine reale Lebensgeschichte einzudenken?
Grabstein von Hatün Sürücü mit Geburtsdatum 17.1.1982 und Todestag 7.2.2005.
Grabstelle von Hatün Sürücü in Berlin-Gatow © dpa / Jens Kalaene
Hormann: Ich würde mal sagen, Almila Bagriacik, die ich wirklich eine herausragende junge Schauspielerin finde, sehe, spüre, ist in diese Figur der Hatun Sürücü förmlich reingekrochen. Und wir haben mit Simone Baer, die das Casting gemacht hat, wirklich nach den richtigen, also Kurden gesucht, Türken gesucht, und fanden dann den wunderbaren Mehmet Atesci, der hier am Maxim Gorki die großen Rollen spielt, Aram Arami, den wir aus "Fack ju Göhte" kennen, und Rauand Taleb, den wir aus "4 Blocks" kennen. Und das war eine ganz merkwürdige Melange an Backgrounds, die dann plötzlich sich auf diesem Originalschauplatz einfanden, und es wurde erst mal nur still. Aus dieser Stille heraus habe ich gesagt: So, und jetzt erzählen wir die Geschichte. Das hat man selten beim Drehen.
Burg: Das heißt, haben die auch ein bisschen selber was eingebracht?
Hormann: Ja, total viel eingebracht, jeder. Jeder wusste, dass er was einbringt. Wir haben ja auch unterm Radar gedreht. Es wusste ja auch keiner von den Dreharbeiten. Es war ja auch sehr bewusst so gemacht. Und jeder wollte jeder Figur eine Stimme geben.
Burg: Davor war ja auch der Prozess des Drehbuchschreibens. Und Florian Öller hat von der Gefahr gesprochen, dass man glaubt zu wissen, wie es in einer religiösen Familie zugeht, und wie er sich selbst dabei ertappt hat, in die sprachliche Kopftuchmädchenfalle zu tappen. Sahen Sie da auch eine Gefahr für sich selbst als Regisseurin?
Hormann: Unbedingt. Ich kann mich Florian nur anschließen. Also man hat ja täglich einen Schweißausbruch bei dem Thema. Also man denkt sich: Oh, oh, spiele ich den Populisten in die Hände? Oder werden eigentlich die, von denen ich verstanden werden möchte, denken 'Sherry, du hast jetzt aber wieder ganz schön in Klischees gedreht' - dessen sind wir uns sehr gewahr.

"Es ist meine Verpflichtung, Stoffe dieser Art zu beleuchten"

Burg: Können Sie ein Beispiel geben, wo es so eine Situation gab, wo Sie dachten - ah, gut, dass mir da mal jemand korrigiert hat?
Hormann: Das begann schon an der Moschee. Also ich war noch nie in einer Moschee, und wie bringe ich auch den Menschen Respekt gegenüber, die wissen, dass wir diesen Fall verfilmen – jetzt sage ich auch schon Fall. Es ist so schade, dass plötzlich ein Mensch, der nicht mehr da ist, ein Fall wird. Das finde ich einfach schrecklich, diese Sprache. Egal.
Wie verhält man sich? Ein ganz kleines Beispiel: Morgens wacht die Figur von Rauand Taleb auf, geht ins Bad, und die Eltern sitzen am Frühstückstisch. In meiner Kultur hätte ich ihn guten Morgen sagen lassen. Das habe ich auch getan, und die guckten mich alle an und sagten, man sagt bei uns nicht guten Morgen, der geht einfach ins Bad. Also so kleine Details. Oder wie liegen die Schwestern alle zusammen im Bett? Wie strikt ist die Aufteilung, dass die Jungs in einem Zimmer schlafen, die Schwestern im anderen Zimmer? Ich habe sehr viel darüber gelernt.

Burg: Sie erwähnten, dass man ja auch ganz schnell in irgendwelche politischen Fallen tappen kann, das ist so ein schwieriges Thema. Sehen Sie da die Gefahr, dass dieser Film vielleicht auch von Menschen in einer bestimmten Art und Weise gesehen wird, die sagen, na ja, seht doch mal hier. Also das Stichwort Ehrenmord, das ist genau … Sie wissen, wie der Gedanke weitergeht.
Aynur (Almila Bagriacik) erstattet Anzeige gegen die Bedrohungen ihrer Brüder.
Aynur (Almila Bagriacik) erstattet Anzeige gegen die Bedrohungen ihrer Brüder.© Mathias Bothor / NFP
Hormann: Ja, ich weiß, wie der Gedanke … Wir sprechen ihn besser gar nicht aus, weil wir geben diesen Menschen zu viel Raum. Jeder hat momentan eine Meinung. Also seit Jahren darf jeder seine Meinung äußern und am liebsten extrem - je lauter desto mehr wird er gehört. Ich bin davon überzeugt, dass viele Leute sagen, ja, du spielst denen in die Hände. Nur, wenn ich keine Geschichten mehr erzählen darf in der Differenziertheit, Angst haben muss, dass ich jemandem in die Hände spiele, dann werde ich nur noch schweigen, und ich will nicht schweigen. Ich lebe in einer Demokratie, und es ist meine Verpflichtung, Stoffe dieser Art zu beleuchten.
Burg: In den USA gibt es gerade einige Filme – das sind meistens Dokumentarfilme –, die Opfern, in dem Fall Überlebenden das Wort geben. Also zum Beispiel "Leaving Neverland", die Dokumentation über die beiden, die mutmaßlich von Michael Jackson missbraucht wurden. Sehen Sie sich da auch in so einer Tradition, oder anders gefragt: Sehen Sie, warum das gerade für viele Filmemacher so attraktiv ist, diese Perspektive zu wählen?
Hormann: Ich denke, dass es einfach eine unglaubliche Sehnsucht bei uns gibt, denjenigen, die nicht mehr unter uns weilen oder denen eine Gewalt angetan wurde, zuzuhören, weniger denen, die die Gewalt antun. Wir haben Jahrzehnte immer denen zugehört oder versucht zu verstehen, warum dies, warum das, warum hat der jetzt ein Messer in die Hand genommen, warum hat er jetzt die Waffe in die Hand genommen, aber warum ihr, warum ihm. Vielleicht ist da einfach auch in dieser Schnelligkeit unserer Kulturen und in dieser Lautstärke, die uns alle irgendwie so einballert, so eine Sehnsucht wieder nach Verweilen und Hinhören.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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