Kino und Weinberg werden zu Kunstorten

Von Barbara Wiegand · 04.06.2012
Fast jeder documenta-Leiter entdeckte neue Orte in Kassel für sich. Auch die 13. Ausgabe der Weltkunstausstellung hat einige Antworten auf die Frage: Wo gibt es hier was zu sehen?
"Der Name 'Kaskade' ist wahrscheinlich eine Herleitung, die Wasserspiele des Herkules, die plätschern durch ganz Kassel ins Kino hinein. Das hat die Menschen sehr gefesselt. Es gab dieses Wasserspiel, was immer vor den Kinoaufführungen gezeigt wurde, das hat die Leute besonders gefesselt. Das war so eine richtige Wassershow, das ist mit Licht verstärkt worden. Das Wasser spielte und am Ende fuhr dann die Leinwand von der Decke runter."

Der Architekt Benjamin Koziol ist verantwortlich für die externen Ausstellungsorte der documenta 13. Das denkmalgeschützte Kaskade-Kino ist einer der Orte, die die Macher der Weltkunstschau für sich entdeckt haben. Ein besonderer Ort – nicht nur wegen der Wasserspiele, die auch Kino-Stars wie Heinz Rühmann oder Hildegard Knef anzogen, die hier ihre Premieren feierten. Auch die Architektur macht das Kino außergewöhnlich. 1952 von Paul Bode, dem Bruder des documenta-Gründers Arnold Bode, erbaut, passt sich das Lichtspielhaus nach außen den nüchternen Bauten mit ihren zum Königsplatz konkav geformten Fassaden an – und überrascht innen mit vielen Details, wie Heinz Kefenbaum von der Denkmalschutzbehörde weiß:

"Die Architekturelemente der 50er-Jahre haben sich dadurch ausgezeichnet, dass die funktionalen Elemente wie etwa die Schallschutzdecke in einem Faltwerk gehalten ist, das mit Goldpapier bespannt ist und indirekte Beleuchtung integriert wurde, die dem Saal mit roten Vorhängen eine ganz bestimmte Stimmung gab."

Zusammen mit dem tortenförmigen Grundriss, der scheints frei über dem Parkett schwebenden Empore sind sie bemerkenswerte Charakteristika einer lange als langweilig verpönten, im Nachkriegs-Kassel sehr präsenten architektonischen Epoche, deren Wirkung die documenta auch anderer Stelle für sich nutzen will. Etwa im Hotel Hessenland – 1953 ebenfalls von Paul Bode erbaut. Der Rundgang führt durch den großen Ballsaal, über eine Freitreppe hinauf in die Galerie, deren Umlauf übrigens bis in die Lobby führt. Hier treffen die Besucher der Weltkunstschau auf ganz normale Hotelgäste.
Das im 19. Jahrhundert errichtete und später vom Hotel mitgenutzte Hugenottenhaus nebenan ist eine weitere Station der documenta – das seit Jahren leer stehende Gebäude gehört damit zu jenen fast vergessenen Orten, die jetzt zu neuem Leben erwachen.

Eine andere Entdeckung ist der sogenannte Weinberg, den man nach einem Spaziergang durch die ebenfalls mit documenta-Kunst bestückte Karlsaue erreicht.

"Das war ein verwunschener Ort, der Weinberg, die Weinberg-Terrassen. Die Terrassen waren nicht zugänglich. Seit dem Krieg eigentlich nicht verkehrssicher. Weil alles zugewachsen war. Das haben wir zuerst gemacht, das Efeu von den Mauern runtergenommen haben. Wir haben eine Kombination zwischen hoch gestalteten Flächen der Terrassen und trotzdem den Waldartigen Charakter im Hintergrund gelassen."

… sagt Gartenamtsleiterin Regula Maria Ohlmeier. Einst als Schanze zum Ausspähen von Feinden genutzt, gab es in der 400-jährigen Geschichte hier Weinanbau und Biergärten, der Fabrikant Henschel baute sich zwei herrschaftliche Villen auf den Hügel und nutzte die Weinterrassen für den Gartenbau. Von den Gebäuden stehen heute nur noch die Ruinen des Gewächshauses. Der gewisse Charme des Verfalls passt zu den monumentalen Tonskulpturen, die der Argentinier Adrian Villar Rojas hier für die documenta aufstellt. Denn mit ihren Rissen erinnern sie an Ausgrabungen einer vergangenen Zeit. Etwa ein Riesenknochen, auf dem eine Frau ein Ferkel säugt. Oder ein Pärchen in einem Boot, am Ende eines von Glocken gesäumten Pfades.

"Als ich das erste Mal hier war, habe ich so viele Glocken gehört. Und so dachte ich mir, probierst du mal, Glocken zu formen. Und meine Idee ist, dass die Menschen hier überall rumlaufen und diese Dinge finden. Dinge, die im Zusammenhang mit dem Ort entstehen. Sie haben keine feste Bedeutung, auch wenn es Zusammenhänge gibt – wie etwa zwischen den Grabsteinen und den Glocken. Aber das sind Zusammenhänge, die sich nicht auf den ersten Blick aufdrängen."

Nicht nur über der Erde wird der Weinberg zum Kunstort – auch in seinem Inneren wird es etwas zu sehen geben. Nochmals Heinz Kefenbaum von der Denkmalschutzbehörde:

"Bei den unterirdischen Anlagen handelt es sich um Stollen, in denen seit 1825 Bier gelagert wurde. Eine Naturkühlung, die noch durch entsprechende Eiseinlagerung unterstützt wurde. Die Keller wurden relativ einfach in den Kalkfelsen hineingebaut. Und zwar ist das ein Felsenkeller, der während des Krieges als Luftschutzbunker genutzt wurde. Man versuchte dann in den 50er-, 60er-Jahren eine Champignonzucht dort aufzumachen, dann gab es mal illegale Discoparties, die dort stattgefunden haben, wo allerdings Leitungen angekokelt sind und man einem Brand kurz entgangen ist."

Der Bunker im Weinberg ist beispielhaft für die Idee der documenta-Leiterin Carolyn Christov Bakargiev, unter dem Motto Zusammenbruch und Wiederaufbau auf den Ausstellungsort Kassel und seine Geschichte einzugehen. Eine Stadt, die Sitz von Kurfürsten war und von Rüstungsfabrikanten, die im zweiten Weltkrieg weitgehend zerstört und in den 50 Jahren wiedererrichtet wurde. Und gemeinsam mit den anderen für die documenta 13 erschlossenen Orten ist eines schon im Vorfeld klar: Egal was man von der Kunst halten mag, man wird neue Ansichten bekommen von dieser Stadt in der nordhessischen Provinz, die alle fünf Jahre für 100 Tage zum Mittelpunkt der Kunstwelt wird.
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