Kino im Kopf

26.11.2010
Torsten Schulz ist ein Spezialist für Alltags- und Milieugeschichten aus dem Osten Deutschlands: So schrieb er die Vorlage für den Film "Boxhagener Platz". Zwölf seiner schönsten Erzählungen sind nun als Hörbuch erschienen, gelesen von prominenten Schauspielern wie Corinna Harfouch und Axel Prahl.
"Handspiel im Strafraum! Elfmeter! Uehns schießt. Tor! 1:1. 1:1 für Union! rief ich dem Radio zu. Ist ja unfassbar. Aber es sollte noch unfassbarer kommen. Nach der Halbzeitpause trumpften die Unioner auf, Jimmy Hoge,.. und immer wieder Lauck. Reinhardt Lauck. Der Neue." (Gelesen von Axel Prahl)

Es ist ein Heimspiel für Axel Prahl: Ein Text wie geschrieben für den Schauspieler aus dem Westen, der scheinbar mühelos den Ton ostdeutscher Befindlichkeiten trifft. Die Geschichte "Das Trikot" erzählt aus der Perspektive eines jungen Fans vom DDR-Nationalspieler Reinhardt Lauck: Beim legendären Pokalsieg 1968 spielte der erstmals für Union Berlin, wurde vielgeliebter Stammspieler und wechselte dennoch unter dubiosen Umständen zum Erzrivalen BFC Dynamo – dem Stasi-Club. Eine wechselhafte, in ihrem Ende tragische Sportler-Karriere. Und eine Geschichte, die auf den Spuren deutsch-deutscher Geschichte wandelt. Zu denen auch die WM 1974 gehört:

"Am Ende des Turniers wurde die BRD Weltmeister und mein Vater sagte 'Tja, der DDR sei Dank. Die DDR hat sie mit ihrem 1:0-Sieg rechtzeitig wachgerüttelt.' Eine deutsch-deutsche Solidaritätsmaßnahme, wenn man's genau nimmt. Es gibt keine Solidarität zwischen Ost und West. Sagte meine Mutter." (Gelesen von Axel Prahl)

Deutsch-deutsche Solidarität - oder vielmehr deren Mangel - ist ein Schlüsselmotiv in einigen der zwölf Geschichten von Torsten Schulz, die jetzt unter dem Titel "Revolution und Filzläuse" als Hörbuch erschienen sind. Da ist die greise Rollstuhlfahrerin, die sich nach vielen Jahrzehnten zu ihrem Ex-Mann im Westen bringen lässt, um dessen vermeintlich besseres Leben mit eigenen Augen zu sehen. Die Schauspielerin Katja Weitzenböck trägt dieses "Rollschuhlaufen" so abgründig vor, als würde man einem Krimi lauschen. Ein ganz anderer Höhepunkt: Corinna Harfouch. Sie versteht es mit kühler Raffinesse, ihre Hörer an der Nase herumzuführen. Sie liest: "Eine glatte Eins".
"Peter Gronert, 58 Jahre alt, ehemaliger Lehrer für Marxismus-Leninismus in Ostberlin , mit dem Ende der DDR arbeitslos geworden, streifte wie fast täglich durch die Straßen seines Kiezes. Vor allem um die Bauarbeiten zu beobachten, die an den alten Mietshäusern vorgenommen wurden. Er mochte es, so wie jetzt in der Gleimstraße, vor den Baugerüsten stehen zu bleiben, um wie ein Kontrolleur die Arbeit der Handwerker zu verfolgen." (Gelesen von Corinna Harfouch)

Kein Gramm Mitleid in der Stimme - weder für den arbeitslosen Gronert, noch für die unsichere Immobilienmaklerin, die den Endfünfziger auf der Straße für einen solventen Wessi-Kunden hält. Die devote Unterwürfigkeit der jungen Frau schlägt im Verlauf der Begegnung um: In Zorn über Gronerts nostalgische DDR-Verklärungen. Sie legt ein ziemlich überraschendes Bekenntnis ab:

"Marxismus-Leninismus war eines meiner Lieblingsfächer – Abschluss mit eins, mit einer glatten Eins. So, und nun kommt mein Befund. Mein trauriger Befund. Ich war nicht nur naiv, ich war blind. Ich wollte einfach nicht sehen, was das für ein System war. Der Schock stellte sich erst ein nach dem Zusammenbruch. Die Lügen, das Ausmaß der Staatssicherheit. Der Ruin der Wirtschaft." (Gelesen von Corinna Harfouch)

Thorsten Schulz, hauptberuflich Professor für Dramaturgie an der Filmhochschule Babelsberg, hat einen untrüglichen Sinn für Pointen und Timing. Für die Entwicklung eines Plots, für das fast schon automatische Entstehen von Kino im Kopf. Und Schulz hat viel Humor. Den liefert vor allem die Titelgeschichte seiner CD-Box: Revolution und Filzläuse. Was das eine mit dem anderen zu tun hat, wird hier nicht verraten. Aber ein kleiner Eindruck von Milan Peschels großer Vortragskunst - der darf an dieser Stelle nicht fehlen:

"Verrecken sollen die an den Filzläusen. Verrecken! Nicole hatte denselben Tonfall wie Sam, als er gesagt hatte: 'Die Revolution zerstören, das würde den Yankees nicht gelingen. Fehlte bloß noch, dass sie ihre Faust zum revolutionären Gruß erhob.' 'Genau!' sagte Thomas. 'Die Filzläuse haben ein ganz spezielles Gift, das nur bei den Republikanern in Amerika wirkt.' 'Nicht nur tödlich, auch qualvoll.' unterbrach ihn Nicole. 'Das wäre eine Art Revolution.' sagte Thomas 'Ja!'" (Gelesen von Milan Peschel).

Besprochen von Olga Hochweis

Torsten Schulz: Revolution und Filzläuse
Gelsen von Milan Peschel, Corinna Harfouch, Axel Prahl, Katja Weitzenböck, Florian Martens, Ina Weisse und dem Autor selbst
Goyalit, Hamburg 2010,
3 Audio-CDs
205 Minuten, 14,95 Euro
(es lesen
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