King Kreol

Von Sven Weniger und Michael Marek · 03.07.2012
Die kreolischen Sprachen entwickelten sich ab Mitte des 17. Jahrhunderts, als Sklaven aus den verschiedensten Regionen Afrikas verschleppt wurden. Die Sprache wird an vielen Orten der Welt gesprochen, auch auf Saint Lucia in der Karibik.
Castries, 5 Uhr 30 morgens: Es ist noch dunkel, die Luft lau und weich wie Seide. In der Hauptstadt St. Lucias laufen bereits die Transistoren heiß. Sam Flood stürzt sich in den Tag.

Sam Flood ist Radiomoderator auf HOT 105,3 – und eine Legende in der Region. Juke Bois nennen sie ihn hier. Das heißt so viel wie: der Mann, der die Missstände aufspießt. Dafür lieben ihn seine Hörer. Umso mehr, als Juke Bois sie in ihrer eigenen Sprache anredet - auf Kreolisch.

"Während meiner Kindheit verboten mir sogar meine Eltern Kreolisch zu sprechen, obwohl sie selbst kein Englisch konnten."

Primus Hutchinson weiß, wovon er spricht. Er machte Kreolisch in der Öffentlichkeit wieder salonfähig. Er ist Gründer des kreolischen Programms im Radio und Fernsehen von St. Lucia.

"Meine Eltern hielten Kreolisch für rückwärtsgewandt, für ein Zeichen mangelnder Erziehung. Auch in der Schule war es verboten. Ich fand das damals schon sehr erniedrigend, schließlich unterhielten wir uns miteinander nur auf Kreolisch oder Patois. Darin konnten wir alles sagen. Vieles kannst du gar nicht anders ausdrücken. Witze auf Kreolisch sind einfach die besten. Einen Witz gut erzählen, das geht nicht auf Englisch, sondern nur auf Kreolisch. Die Leute rasten dann aus vor Lachen."

Kreolische Sprachen entwickelten sich ab Mitte des 17. Jahrhunderts, als Sklaven aus den verschiedensten Regionen Afrikas verschleppt wurden. In ihrer neuen Heimat mussten sie eine eigene, gemeinsame Sprache entwickeln – eine Sprache, mit der sie sich untereinander und gleichzeitig mit den weißen Herren verständigen konnten. Dies galt vor allem für das Leben auf jenen Inseln, die geografisch und kulturell besonders stark isoliert waren. Hier war der Druck zur Anpassung besonders groß. Dabei bildeten sich eine eigene Grammatik, Syntax und Phonetik. So entstand eine neue Muttersprache, mit der die nachfolgenden Generationen aufwuchsen:

"Kwéyòl ist hauptsächlich aus afrikanischen Sprachen und Französisch entstanden. Es wird auf vielen Karibikinseln gesprochen: Grenada, Trinidad, St. Lucia, Dominica, Guadeloupe, Martinique, Haiti - und interessanterweise auch auf Mauritius und den Seychellen. Es ist also eine eigenständige Sprache."

Dass sich Haitianer und St. Lucians problemlos miteinander unterhalten können, das ist aufgrund der geografischen Nähe nicht überraschend. Dass sich aber Menschen verständigen können, die zehntausend Kilometer entfernt auf der anderen Seite des Globus leben, ist verblüffend. Und das, obwohl die Bewohner der Karibik niemals Kontakt mit denen des Indischen Ozeans hatten. Trotzdem sprechen die Bewohner der Seychellen und St. Lucias nahezu dasselbe Kreolisch. Kwéyòl hat sich über die Jahrhunderte offensichtlich in dieselbe Richtung entwickelt - Sprachwissenschaftler können diese Sprachverwandtschaft bis heute nicht erklären.

Markttag in Castries, der Inselhauptstadt von St. Lucia: Frauen feilschen vor und hinter einfachen Holzständen, die sich unter exotischen Früchten und Gewürzen biegen.

Hier, im Alltag, ist die Sprache der St. Lucians allgegenwärtig. Kwéyòl und dessen Alltagsslang Patois. Besucher aus dem fernen Europa bekommen das fast nie zu Ohren, weil mit ihnen nur Englisch gesprochen wird, die zweite offizielle Landssprache. Doch hier ist er überall zu hören: der weiche, angenehm melodische Fluss der Worte. Aus den harten Rs wird ein fast gehauchtes W. Einige Konsonanten wie Q und X fehlen ganz, Akzente steigern die Vielfalt der gebräuchlichen Vokale. Wer gut Französisch spricht, kann sich recht schnell verständlich machen, und versteht sogar ein wenig von dem, was um ihn herum gesprochen wird.

Gleich gegenüber vom Markt halten die Busse. Menschen drängeln sich vorbei. Jeder will einen Sitz haben in den kleinen Minivans, die in rasanter Fahrt über die ganze Insel kurven.

Umgerechnet zwei Euro kostet die Fahrt in den Süden. Billiger kann man nicht von Ort zu Ort kommen. Vor allem Frauen und junge Leute sind so unterwegs: Immer, wenn jemand entlang der Küstenstraßen aussteigen oder mitgenommen werden will, hält der Wagen. Dann geht die Tür auf und man begrüßt sich mit einem höflichen "Bonjou".

Die geistige Elite der Insel tat sich fast bis zum Ende des letzten Jahrhunderts mit dem Gebrauch von Kreolisch deutlich schwer. Künstler, Politiker, Wissenschaftler - wer auch immer etwas auf sich hielt, hatte eine streng britische Ausbildung genossen. Viele beherrschten die Sprache ihrer Vorfahren gar nicht mehr. Selbst Derek Walcott, der Literaturnobelpreisträger aus Castries, der stets den Kulturimperialismus der europäischen Kolonialherren verdammt hatte, tat dies ausschließlich auf Englisch.

Im Norden der Insel lebt einer der bekanntesten Maler St. Lucias: Llewellyn Xavier. Seine Bilder hängen in den großen Museen und Galerien der Welt. Llewellyn ist ein Globetrotter, ein stattlicher Bonvivant mit makellosem Oxford-Akzent in der sonoren Stimme. In seiner weißen Villa hoch über der Küste hängen vier großformatige Ölgemälde. In seinem Atelier mit Panoramablick erklärt er, warum sein Werk ohne die Sprache seiner Vorfahren undenkbar wäre.

"Ich bin bei meiner Großmutter aufgewachsen, die nur Kreolisch sprach. Die Sprache hat für mich einen großen sentimentalen Wert. Viele Ausdrücke im Kreolischen gibt es gar nicht auf Englisch. Unsere Folklore ist kreolisch, Geschichten voller Moral, über Gut und Böse. Genauso wollte ich mich auch auf der Leinwand ausdrücken. Unsere Sprache und das, was ich sehe, wenn ich aus diesem Fenster blicke, sind zwei Seiten derselben Medaille. Beides inspiriert mich bis heute."

Mittlerweile ist Kreolisch aus dem Kulturbetrieb von St. Lucia nicht mehr wegzudenken: Im Theater, in der Musik, in den Medien – die Sprache der schwarzen Vorfahren findet im öffentlichen Leben immer größere Anerkennung. Kürzlich wurden Teile des Evangeliums ins Kreolische übersetzt. Das neue sprachliche Selbstbewusstsein zeigt sich auch in der Politik: Die Sprachwissenschaftlerin und Generalgouverneurin von St. Lucia, Pearlette Louisy, hält ihre Parlamentsreden auch in der Landessprache.

"Das Folk Research Centre ist eine Nichtregierungsorganisation. Es hat die Aufgabe, unsere kreolischen Bräuche zu erforschen, zu archivieren und für jeden zugänglich zu machen. Denn Sprache bestimmt ganz wesentlich unsere Alltagskultur. Deshalb gilt dem Aspekt der Sprachentwicklung unsere besondere Aufmerksamkeit."

Kentry Jeanpierre arbeitet in einer heruntergekommenen Villa hoch über dem Stadtzentrum. Dass es hier an Geld mangelt, ist auf den ersten Blick zu sehen. Sein Büro ist kahl und schmucklos: zwei Stühle, ein Schreibtisch, Telefon und ein alter PC. Kentry organisiert die Arbeit der Forschungseinrichtung mit bescheidenen finanziellen Mitteln. Das meiste Geld wird gespendet.

"Wegen unserer kolonialen Geschichte schauen die Leute erstmal ins Ausland, wenn es um die Zukunft unseres Landes geht. Wir hier im Folk Research Centre wollen zeigen, dass wir stolz auf uns selbst sein können. Und wir wollen die Leute dazu ermutigen, dies als Realität anzuerkennen."

Deshalb hat das kleine Forschungszentrum angefangen, alle Tonaufnahmen in Kwéyòl zu sammeln, die auf der Insel zu finden sind. Bis jetzt sind es über zweitausend, meist auf alten Tonbändern und in schlechtem Zustand. Das Material aufzubereiten, zu digitalisieren und dann ins Internet zu stellen, ist das wichtigste Ziel. Aber die Sprachbewahrer engagieren sich auch bei Veranstaltungen, zum Beispiel beim Jounen Kwéyòl-Festival, das jeden Herbst weltweit von allen Kreolisch sprechenden Völkern veranstaltet wird.

Die kreolischen Sprachen entwickelten sich ab Mitte des 17. Jahrhunderts, als Sklaven aus den verschiedensten Regionen Afrikas verschleppt wurden. Auch auf Saint Lucia in der Karibik sprechen die etwa 160.000 Einwohner Créole. Und viele tun es mittlerweile mit Stolz und Selbstbewusstsein.

Es ist Abend geworden. Noch immer sind es 28 Grad. Die Luft schmeckt nach Meer. Claudette Adjodha, eine große, weißhaarige Schönheit ist Sängerin. Wenn sie ihre Gitarre in die Hand nimmt und eines ihrer kreolischen Liebeslieder anstimmt, wird es still unter den Gästen in der luftigen Lounge des Jade Mountain.

"Das Lied erzählt von der Schönheit des Mondes und vergleicht sie mit der Schönheit der Geliebten. Ein junger Mann erzählt seiner Mutter, er werde zum Beten in die Kirche gehen. Aber stattdessen trifft er sich mit seiner Freundin."

Das Jade Mountain ist mehr als nur St. Lucias exklusivstes Hotel. Es ist ein Ort, den die Besitzerin, Karolin Troubetzkoy, zur Kunstgalerie und Performancebühne gestaltet hat. Neben Claudette treten hier regelmäßig Insel-Bands auf. Zimmer, Bäder, Bars und Lobby wurden von lokalen Malern und Bildhauern gestaltet. Karolin Troubetzkoy ist dabei weniger Schöngeist als Managerin mit gesellschaftspolitischem Anliegen. Denn sie arbeitet auch als deutsche Honorarkonsulin. Für die Mittvierzigerin mit dem kastanienbraunen Haar ist Entwicklungshilfe vor allem eines: Schutz des kulturellen Erbes ihrer zweiten Heimat.

"Früher fand ich doch, dass alle Insulaner mit dem schönen Patois kamen, zwar Englisch sprachen, aber vielleicht nicht ganz so gut. Mittlerweile hat sich das ein bisschen verändert, gerade durchs Fernsehen. Die neue Generation spricht fließend Englisch und hat dann vielleicht so ein paar Patois-Wörter vergessen. Aus dieser Entwicklungsgeschichte heraus ist es gekommen, dass die Schulen mehr darauf bedacht waren, dass die Kinder richtig Englisch lernen. Sie sind davon ausgegangen, dass die Kinder mit Patois-Kenntnissen ankommen und dass man ihnen dann mit dem Englischen helfen muss.

Jetzt hat sich vielleicht das ganze Selbstbewusstsein der Insel soweit ergeben, dass man nun auch mal zurückblicken und sagen kann: Okay, es spricht halt nun jeder Englisch. Wir können jetzt auch mal wieder sicherstellen, dass alle auch ihre Patois-Kenntnisse erhalten und beibehalten werden. Und das finde ich sehr schön. Weil es ist ja eine melodische Sprache, und man sollte die auf keinen Fall vergessen, trotz allen Fortschritts."

Etwa zwanzig Mädchen und Jungen zwischen acht und zwölf Jahren kommen aus den drei Klassenräumen der Schule in Bouton, einem kleinen Dorf in der Nachbarschaft. Bernadette Southwell, die Direktorin, ruft sie zur Ruhe und bittet sie, kreolische Kinderlieder singen.

"Ja, Englisch und Kwéyòl ergänzen sich in der Schule. Wir müssen manchmal mit den Kindern auf Patois, dem Alltagsslang des Kreolischen sprechen, um ihnen zu erklären, was englische Begriffe überhaupt bedeuten. Beide Sprachen sollten also parallel unterrichtet werden. So kann man lernen, Patois und auch Englisch sehr gut zu sprechen."

Bernadette Southwell ist eine gewichtige, bedächtige Frau in dunkelgrauem Kostüm. Über 30 Jahre Schuldienst liegen bereits hinter ihr.

"Ich glaube nicht, dass die Sprache unserer Eltern in Gefahr ist. Aber es gibt das Problem, dass die Leute zwar Patois sprechen, viele aber Kreolisch nicht schreiben können. Lange Zeit gab es keine festgelegte Orthografie. Wir hatten die Schrift nicht formalisiert, um sie als Sprache hätten unterrichten zu können."

Gerade einmal zwanzig Jahre ist es her, dass der Dorfschullehrer Jones Mondesir aus Soufrière das erste kreolische Wörterbuch schrieb. Seit 2001 gibt es eine kind- und schulgerechte Version, das Kwéyòl Dictionary. Es wird herausgegeben vom Erziehungsministerium St. Lucias. Auch die Kinder der Bouton Combined School lernen damit. Kreolisch gewinnt wieder an Einfluss auf St. Lucia.

"Für uns St. Lucians hat Patois eine große geschichtliche Bedeutung: Die Sprache sagt uns etwas über unsere Herkunft und wo wir heute stehen. Als die Sklaven in die Karibik kamen, brauchten sie eine Sprache, um sich miteinander zu verständigen. Wir als Volk müssen unseren Ursprung kennen. Und Patois erinnert uns daran, woher wir alle kamen."