Kindsmord und Mutterliebe

Von Joachim Güntner |
Geschichte und Literatur sind voll von Kindsmorden. Für die Antike ließe sich, nimmt man die nach Hunderten zählenden Belege der schriftlichen Überlieferung, dazu die Apologetik der klassischen Autoren, von einem alltäglichen Usus sprechen. Kinder wurden in Flüsse geworfen, in Jauchegruben ersäuft, in Gefäße gesperrt, um sie verhungern zu lassen.
Erstgeborene, sofern es Knaben waren, hatten die besten Überlebenschancen; Mädchen hingegen setzte man oft aus, "als Beute für wilde Tiere, die sie zerreissen würden", wie Euripides festhält. Das Christentum machte dem keineswegs rasch ein Ende. Die historische Forschung zum Thema zitiert wiederholt einen Priester, der noch 1527 berichtete, dass die römischen "Latrinen vom Schreien der Kinder widerhallten, die man hineinwarf". Sich der Säuglinge in Gossen oder auf Misthaufen zu entledigen, war selbst im London des ausgehenden 19. Jahrhunderts keine Seltenheit. Dabei gab es längst Findelhäuser.

Heute können verzweifelte Wöchnerinnen ihr Neugeborenes in Babyklappen deponieren. Dem Töten und Aussetzen der Kinder hilft es nur bedingt ab. Achtzehn verloren 2004 auf diese Weise in Deutschland ihr frisches Leben, gar dreiunddreissig waren es im Jahr davor.

Abscheu, Grausen und betroffenes Rätselraten darüber, wie es so weit kommen konnte, erregt dieser Tage eine Mordgeschichte, deren Anfänge bis 1988 und damit bis in die DDR zurückreichen. Neun ihrer dreizehn Kinder hat eine Frau im östlichsten Brandenburg, in Frankfurt an der Oder, gleich nach der Geburt getötet und die Leichen in nächster Nähe verscharrt. Die Frau ist kein Monstrum ohne sittliches Empfinden. Auf die Frage, warum sie den unerwünschten Nachwuchs nicht lieber zur Adoption freigegeben hat, hat sie geantwortet, dies wäre ihr peinlich gewesen. Allzu lapidar erscheint dem schockierten Publikum ihre Auskunft zum Motiv: Sie habe die Kinder einfach nicht gewollt.

Jahrhunderte lang hätte man gefunden, gerade in dieser Beiläufigkeit sei die Handlung hinreichend erklärt. Solches Achselzucken steht uns heute denkbar fern, dem Prozess der Zivilisation sei Dank. Heute hat das grause Tun Moral- und Rechtsschranken zu durchbrechen, die früher nicht galten. Mordende Mütter ernten fassungsloses Entsetzen, und das Erklären der Antriebe neigt dazu, weit auszuholen. Indessen merkt der Kriminologe Christian Pfeiffer an, dass in den letzten zehn Jahren in Ostdeutschland etwa dreimal so viele Kinder wie in Westdeutschland getötet worden seien.

Schlüssig erklären kann sich der Kriminologe das Ost-West-Gefälle allerdings nicht. Andere Kommentatoren reden von der Entbürgerlichung und Entchristianisierung im "Arbeiter-und-Bauern-Staat". Dass die Kindsmörderin in Brandenburg aus einer Familie kommt, die immerhin so bürgerlich war, dass sie das Mädchen vom staatlichen Kindergarten fernhielt, und dass der Vater christlich genug war, um sich im evangelischen Kirchenrat der Gemeinde zu engagieren, wird dabei leider ausgeblendet.

Fehlt noch die Interpretation des jetzt zur Untersuchung herangezogenen Psychiaters. Was er herausfinden wird, lässt sich absehen: Er wird die Ehehölle der Frau schildern, ihren Alkoholismus, und vielleicht präsentiert er uns ja auch noch einen Knacks, den die Mörderin als Heranwachsende erlitten hat. Mit ein bisschen Glück sind wir hinterher alle beruhigt. Und dann?

Walter Scott, der berühmte englische Romanschriftsteller, hat von seiner Mutter berichtet, sie sei "sehr stark vom Teufel versucht worden, mir mit einer Schere die Kehle durchzuschneiden und mich im Moor zu versenken". Vom Theologischen ins Profane übersetzt würde ich sagen: Die Versuchung, die Frau Scott da so schrecklich anrührte, dass sie das Verlangen nur als teuflisch erklären konnte, kam aus anthropologischen Tiefenschichten. Scotts Mutter spürte einen Grundimpuls, der, auch wenn wir modernen empfindsamen Gemüter bei dem Gedanken sofort protestieren, zu unserer menschlichen Ausstattung gehört.

Mutterliebe ist nichts, was mit der Geburt eines Kindes notwendig da sein muss. Sie muss erst hergestellt werden, und wehe, die Bereitschaft dazu fehlt. Wir wissen mittlerweile, welche Rolle das Stillen für die Mutter-Kind-Bindung besitzt. An Säugetieren lässt sich beobachten, dass sie ihren Nachwuchs erst dann angenommen haben, wenn sie ihn abgeleckt haben. Kommt es nicht dazu, lassen sie das Kind einfach im Stich, als hätten sie es nie gesehen.

Ich stelle mir vor, wie die Kindsmörderin in Brandenburg, die angibt, stets betrunken gewesen zu sein, aber keine Gewalt ausgeübt zu haben, in vollendetem Gleichmut das Neugeborene unter eine Decke steckt, wo es erstickt, und wie sie das ungewollte, ungestillte Kind erst einmal für ein Weilchen – ganz einfach vergisst. Wir sind von der Praxis anderer Säugetiere wohl doch nicht so weit entfernt.


Joachim Güntner, Jahrgang 1960, studierte Philosophie und Literaturwissenschaften, bevor er in die freie Publizistik ging. Er war zunächst künstlerisch-wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Kunsthochschule für Medien in Köln und schrieb für die Feuilletons überregionaler Zeitungen, für Zeitschriften und für den Hörfunk. Seit 1997 ist Güntner der für Deutschland zuständige Kulturkorrespondent der "Neuen Zürcher Zeitung".