Kindheitserinnerungen aus Island

13.01.2012
Die isländische Autorin Kristin Steinsdottir kann nicht nur schreiben, sondern auch erzählen - ohne Stift und Papier, ohne Manuskript. In dem Hörbuch "Leben im Fisch" hat die Germanistin Erinnerungen an ihre Kindheit in einem kleinen Fischerort in Ostisland zusammengetragen.
"Die Berge, die wechseln Farben. Ein Berg kann grau sein, braun, violett, orange - es gibt so viele unterschiedliche Töne."

Wer mit dem Schiff nach Island reist, kommt im spärlich besiedelten Osten an. Zwischen diesen Bergen, die ihre Farbe wechseln, dringt man in einen endlos langen Fjord, an dessen Ende ein paar Häuser stehen: Seydisfjördur. Hier ist Kristin Steinsdottir geboren, 1946. Ein karges Leben war das damals. Von morgens bis abends gab es Fisch mit Kartoffeln und Steckrüben. Als die junge Kristin weit weg von zu Hause im Internat war, schreibt ihr die Mutter:

"Kristin, freue dich, dass Du da bist. Freue Dich, dass Du jung bist und die Gelegenheit hast, auf eine höhere Schule zu gehen und mit netten Leuten zusammen zu sein. Habe kein Heimweh auf uns, wir sind da, wir warten auf Dich, wir sind da, wenn Du zurückkommst. Freue Dich, dass Du nicht hier bist, weil hier ist so stinklangweilig. - Sie wollte ja auch immer weg. Und kam nicht weg."

Doch aus der Warte eines Kindes wird jede Begebenheit zu einem erzählenswerten, spannenden Ereignis. Kristin Steinsdottir spricht aus dem Gedächtnis, ohne Manuskript, so haben schon Peter Kurzeck und Herta Müller aus ihrem Leben erzählt - und ebenfalls beim Berliner Supposé Verlag, der sich auf das "mündliche Erzählen" spezialisiert hat.

"Ich heiße Kristin, ich wurde aber immer Krilla genannt, das war eine Verkürzung. Mein Vater hieß Stein und meine Mutter hieß Artsthrudur."

Kristin Steinsdottir ist ja keine Schauspielerin, keine Berufssprecherin, sie spricht ein isländisch behauchtes Deutsch, dessen kleine Fehler umso authentischer wirken; nie klingt sie routiniert. Ihr Tonfall verändert sich fast automatisch je nach Thema. Zum Beispiel bei der Geschichte von Jon, der der Tote genannt wird, da senkt sie die Stimme, sie distanziert sich von dem Geschehen und erzählt es trotzdem beinahe achtungsvoll. Eine Uhr brauche ich nicht, sagt Jon -

"Wenn ich mich abends hinlege, dann nehme ich meinen Kopf ab, häng den Kopf an die Wand, und am nächsten Morgen sagt der Kopf dann: Guten Tag, Jon, jetzt sollst aufstehn. Da steh ich auf, ohne Kopf, setze den Kopf auf und der Tag hat begonnen."

Es ist eine jener skurrilen Geschichten, wie es sie wahrscheinlich nur in Island gibt; bei Gunnar Gunnarsson durchzieht so ein Kopfloser einen ganzen Roman. Aber das Skurrile spielt in Kristins Jugend nicht die Hauptrolle, im Grunde denkt sie sehr praktisch, und alles dreht sich um das Essen. Obwohl ihr Vater, der Schuldirektor des Ortes, Kommunist ist, will sie schon mit 14 Geld verdienen und am liebsten im Akkord. Das konnte man nur "im Fisch", wie es heißt, damals tauchten riesige Heringsschwärme im Fjord auf. Auf dem Beiheft schaut uns ein hübscher Lockenkopf mit keckem Lächeln an: die Autorin in ihrer blühenden Jugend - mit blutverschmierter Gummischürze.

"Dann sollten wir die Heringe ins Hand greifen, Kopf ab, die Innereien raus und alles in diesen leeren Kasten, das war so, das waren ein, zwei, das war drei Griffe. - Ich hab selbst bestimmt, ob ich nun langsam bin oder schnell, natürlich wollte ich schnell sein, ich wollte viel Geld verdienen."

Das war im Sommer 1961, sie war 15 und ging schon aufs Gymnasium, das bezahlt werden musste. "Im Fisch" verdiente sie ihr eigenes Schulgeld. Aber wenn es sein musste, konnte sie auch feiern. Was sich freilich besser mit den ausländischen Matrosen bewerkstelligen ließ.

"Ich hab am allerliebsten mit den Norwegern getanzt, weil die so schön getanzt haben und immer nicht besoffen waren. Die Isländer waren manchmal so grässlich besoffen."

Kristin Steinsdottir erzählt uns die Geschichte eines Mädchens mit vielen Facetten: Diese Kristin ist kokett und ernsthaft, lebenslustig und verantwortungsvoll, sinnenfroh und strebsam. Und bei allem, was sie uns erzählt und sei es noch so nebensächlich, wickelt sie uns um den Finger mit einem unwiderstehlichen Charme.

Besprochen von Peter Urban-Halle

Kristin Steinsdottir: Leben im Fisch. Kristin Steinsdottir erzählt das Island ihrer Kindheit
Supposé Verlag, Berlin 2011
3 CDs, 190 Minuten, 29,80 Euro