Kindheit voller Lügen

In ihrem Buch erinnert sich die russische Autorin Elena Gorokhova an ihre Jugend in der Sowjetunion. Dort musste sie vor allem lernen, mit Lügen und Vortäuschungen umzugehen - in der Berufswelt, aber auch im Privaten. Nur die Liebe zur englischen Sprache gab ihr Halt.
Als die Menschen während der sowjetischen Bürgerkriegsjahre hungerten, behalf sich die Großmutter der Autorin mit einer List. Sie gab ihren Kindern eine Scheibe Schwarzbrot, zerbröselte diese in viele Krümel und formte daraus einen kleinen Hügel. Damit täuschte die Mutter vor, es gäbe nicht etwa wenig zu essen, sondern einen ganzen Berg von Brot. Die Anekdote steht am Anfang der autobiografischen Erinnerungen von Elena Gorokhova und inspirierte auch deren englischen Originaltitel "A mountain of crumbs" ("Ein Berg von Krümeln").

Die Vortäuschung zieht sich in zahllosen Beispielen wie ein roter Faden durch das Buch. "Wranjó" lautet das immer wieder zitierte russische umgangssprachliche Wort fürs Lügen. Diverse Ausformungen des Phänomens hält Elena Gorokhova in eindrücklichen Szenen aus dem sowjetischen Alltag fest - vom Kindergarten über die Berufswelt bis hin zum Umgang mit dem Tod im Krankenhaus. Alle wissen, dass sie belogen werden, dass die versprochene leuchtende Zukunft unerreicht bleibt, aber sie spielen das Spiel mit. Freiwillig oder gezwungenermaßen.

Während die Revolutions- und Kriegskinder verzweifelt festhalten am Mythos vom angeblich "besten Land auf Erden", begegnet die nachgeborene Generation ihrem Staat mit zunehmender Desillusionierung oder Zynismus. Die unterschiedlichen Erfahrungen beschreibt Elena Gorokhova eindrucksvoll am Beispiel ihrer linientreuen Mutter (Medizinerin, Jahrgang 1914) und der eigenen Person.

1955 geboren, erlebt Elena Gorokhova ihre prägende Entwicklung in den bleiernen Stagnationsjahren der Breschnew-Ära, als trotz angeblicher Übererfüllung des Plansolls die Regale leer bleiben. Aber nicht nur materiell wird gedarbt. Literatur, die der offiziellen Lesart widerspricht, zirkuliert nur im Untergrund. Das Interesse für westliche Sprachen und Kultur gilt geradezu als anstößig. Der offizielle Kanon lenkt jede einzelne Schulstunde, jede neue Theaterinszenierung, gibt vor, was moralisch wertvoll oder was verwerflich-imperialistisch ist.

Allen Verboten zum Trotz, verliebt sich die Autorin als Zehnjährige fast instinktiv in den dekadenten Klang des Englischen. Ein Hauch von persönlicher Freiheit leuchtet auf in der Sprache, deren wundersame Vokabel "privacy" kein russisches Äquivalent kennt. Elena studiert - als Akademikerkind im Abendstudium, tagsüber werktätig - englische und russische Philologie in Leningrad und heiratet mit 25 einen amerikanischen Austauschstudenten. Mit ihrer Emigration in die USA 1980 endet das Buch.

Über ihre persönliche Geschichte hinaus gelingt Elena Gorokhova ein so bewegendes wie humorvolles Psychogramm ihrer Heimat. Anschaulich, bildreich und voller Situationskomik stellt sie die Seele des homo sovieticus und das alles beherrschende "Wranjo-Phänomen" dar. Es hat, wie sie im Epilog schreibt, auch zu Putin-Zeiten nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Doch statt Bitternis herrscht kluge, streckenweise fast abgeklärte Selbstironie, frei von sentimentalem Kitsch. Die Philologin Gorokhova hat nicht umsonst drei Jahrzehnte im amerikanischen Hochschulbetrieb verbracht. Ihre besondere Mischung aus angelsächsischem Erzählton und zutiefst russischem Stoff gibt diesem Buch seinen ganz besonderen Reiz.

Besprochen von Olga Hochweis

Elena Gorokhova: Goodbye Leningrad
Aus dem Amerikanischen von Saskia Bontjes van Beek
dtv, München 2011
428 Seiten, 14,90 Euro