Kindheit in der Karibik
Haiti ist ein zerrissenes Land. Politische Instabilität, Armut und Gewalt prägen seine Geschichte. Doch das Land in der Karibik hat eine reiche literarische Tradition, die Bücher zwischen Lebenslust, Politik und Poesie hervorbringt. In seinem neuen Roman „Gottes Bleistift hat keinen Radiergummi“ schreibt der haitanische Schriftsteller Louis-Philippe Dalembert über den Umgang mit dem eigenen Schicksal.
Im Speisezimmer des Hotels ist es still an diesem späten Nachmittag. Louis-Philippe Dalembert und sein Verleger Peter Trier sind die einzigen Gäste. Sie trinken Orangensaft aus dem Getränkeautomaten. Noch ist Zeit bis zur Lesung, denn sonst bräuchte der Schriftsteller jetzt etwas anderes.
„Ich brauche nicht viel. Ich brauche Zeit, um wieder in den Text einzutauchen, und, soweit möglich, ein wenig Rum.“
„Gottes Bleistift hat keinen Radiergummi“ lautet der Titel des neuen Romans von Louis-Philippe Dalembert. Es ist die Geschichte eines kleinen Jungen, der in dem ärmlichen Viertel einer karibischen Stadt aufwächst. Seine Nachmittage verbringt der Steppke in einem Autowrack. Im wahrsten Sinne des Wortes beschwört der Autor hier Bilder im Spiegel einer Kindheit:
„Von dort aus, (…) aus diesem alten Peugeot 304 heraus, betrachtet der kleine Junge die Welt. Nicht die Welt, die sich vor dem Auto wimmelnd durchwurschtelt. Die kann er nicht sehen. Dafür müsste er einen oder zwei Mauersteine unterlegen, aber ihr Gewicht würde dem Sitz den Rest geben. Ganz zu schweigen davon, wie rau sie sich unter seinem Hintern anfühlen würden. (…) Deshalb schaut der kleine Junge hinter sich. Dank dem zum Fahrersitz hingeneigten Rückspiegel. Wenn er schulfrei (…) hat, hält er ganze Tage die Augen auf dieses Stück Spiegel geheftet, in dem er das Tun und Treiben der etwas speziellen Fauna vor der Veranda seiner Großmutter beobachtet.“
Die Großmutter ist eine herrische Frau und hört auf den Spitznamen Pont-d’Avignon. Ihre ebenso resoluten Schwestern sind Dauergäste im Haus. Wie der Junge im Buch wuchs auch Dalembert ohne Vater auf. Oma und Mutter machten ihn zu ihrem Liebling – und er hat viel von ihnen gelernt:
„Es hat mir eine gewisse Weltsicht gebracht, die sich von der Weltsicht der Männer unterscheidet. Es hat mir auch eine gewisse Sensibilität gebracht. Den Wunsch, die Frauen zu verstehen, und auch das Bedürfnis, ihnen in meinen Büchern eine Hommage darzubringen.“
Der kleine Junge im Roman hat einen Schutzpatron: Faustin, den Schuhputzer. Jeden Morgen bringt er das Kind zur Schule, egal, ob er noch einen dicken Kopf vom vielen Schnapstrinken hat oder nicht.
„Dieser Faustin kämpft hartnäckig darum, auszuradieren, was Gott geschrieben hat, ein Schicksal, das ihn zu einem Elenden zu verdammen scheint, er kämpft um sein Schicksal – er will Hoffnung finden.“
Der Titel des Buches sagt, dass keiner seinem Schicksal entgehen kann. Anders als Faustin hat Dalembert nie mit seiner Biografie gehadert, im Gegenteil:
„Also, ich habe dreimal Glück in meinem Leben gehabt, nämlich erstens, dass ich ohne Vater aufgewachsen bin. Zweitens, dass ich unter einer Diktatur geboren wurde, und drittens, dass ich in die ärmste Linie meiner Familie hineingeboren worden bin. Und diese drei Faktoren haben mich zu dem Mann gemacht, der ich bin. Meine ganze Arbeit als Schriftsteller wurzelt in dieser Situation meiner Kindheit.“
Der Roman spielt in Salbounda, einem erfundenen Land, das an Haiti erinnert. Salbounda bedeutet: Sich den Hintern schmutzig zu machen. Ein Diktator lässt öffentlich widerständige Bürger hinrichten. Der Junge im Buch ist Zeuge des Verbrechens. Auch Haiti hatte viele Jahre unter Gewaltherrschern zu leiden. Heute ist es ein Land, das als ärmstes in der westlichen Hemisphäre gilt. Hungerkrisen führen zu schweren Unruhen, die politische Lage stabilisiert sich nicht. Aber das ist nur eine Seite des Landes:
„Was man in den Medien schnell vergisst, weil man Katastrophenmeldungen bringen will, ist, dass das ein Land ist, in dem es Leute gibt, die morgens aufstehen, die leben, die lieben, die Träume haben und Hoffnungen. Es ist auch ein Land, in dem gelebt wird, und das wird in den Medien oft unterschlagen.“
Dalembert schreibt über die alltäglichen Geschichten und Handlungen der kleinen Leute. Seine Großmutter war diejenige, die seine Phantasie angeregt hat. Obwohl eine energische Person, war sie doch auch eine treue Bibelleserin:
„Und da sie selbst keine gute Schulausbildung hatte, verstand sie sehr oft nicht alles, was sie in der Bibel las. Dann rief sie einen von uns, oft war das ich, damit er ihr erklärte, was sie gerade las. Und wenn wir es nicht erklären konnten, wurden wir oft bestraft. Und um eine Bestrafung zu vermeiden, erfand ich was.“
Im Roman muss der kleine Junge sein Viertel verlassen, weil die Familie umzieht. Als Erwachsener kehrt er an den Ort seiner Kindheit zurück, doch er findet nicht mehr das, was er dort einst hatte. Eine Erfahrung, die Dalembert selbst gemacht hat:
„Um einen Satz zu paraphrasieren, den jeder kennt: Man kann nicht zweimal in den selben Fluss steigen. Es ist unmöglich, zweimal dieselbe Geschichte zu erleben. Ich denke, die positivste Haltung ist die, gute Erinnerungen zu bewahren und vorwärts zu gehen.“
Nach Beenden der Schule machte Dalembert eine journalistische Ausbildung und studierte Literaturwissenschaft. Der heute 45-Jährige spricht sieben Sprachen. Er ist an vielen Orten zu Hause gewesen: Nancy, Paris, Rom, Jerusalem, Kinshasa. Er liebt das Unterwegssein. Darüber schreibt er in einem anderen Buch, „Die Insel am Ende der Träume“. Es ist ein leichtfüßiger und doch kraftvoller Roman mit Seefahrerromantik, einer Schatzinsel und frivolen Frauen.
„Ich glaube, das ist der Roman, in dem sich am ehesten niederschlägt, was ich erlebt habe, und meine Vagabundenträume.“
Heute lebt Louis-Philippe Dalembert abwechselnd in Paris, Florenz und in Port-au-Prince in Haiti. Nach welchem Ort er am meisten Sehnsucht hat?
„Das ist der Ort, den ich noch nicht kenne.“
„Ich brauche nicht viel. Ich brauche Zeit, um wieder in den Text einzutauchen, und, soweit möglich, ein wenig Rum.“
„Gottes Bleistift hat keinen Radiergummi“ lautet der Titel des neuen Romans von Louis-Philippe Dalembert. Es ist die Geschichte eines kleinen Jungen, der in dem ärmlichen Viertel einer karibischen Stadt aufwächst. Seine Nachmittage verbringt der Steppke in einem Autowrack. Im wahrsten Sinne des Wortes beschwört der Autor hier Bilder im Spiegel einer Kindheit:
„Von dort aus, (…) aus diesem alten Peugeot 304 heraus, betrachtet der kleine Junge die Welt. Nicht die Welt, die sich vor dem Auto wimmelnd durchwurschtelt. Die kann er nicht sehen. Dafür müsste er einen oder zwei Mauersteine unterlegen, aber ihr Gewicht würde dem Sitz den Rest geben. Ganz zu schweigen davon, wie rau sie sich unter seinem Hintern anfühlen würden. (…) Deshalb schaut der kleine Junge hinter sich. Dank dem zum Fahrersitz hingeneigten Rückspiegel. Wenn er schulfrei (…) hat, hält er ganze Tage die Augen auf dieses Stück Spiegel geheftet, in dem er das Tun und Treiben der etwas speziellen Fauna vor der Veranda seiner Großmutter beobachtet.“
Die Großmutter ist eine herrische Frau und hört auf den Spitznamen Pont-d’Avignon. Ihre ebenso resoluten Schwestern sind Dauergäste im Haus. Wie der Junge im Buch wuchs auch Dalembert ohne Vater auf. Oma und Mutter machten ihn zu ihrem Liebling – und er hat viel von ihnen gelernt:
„Es hat mir eine gewisse Weltsicht gebracht, die sich von der Weltsicht der Männer unterscheidet. Es hat mir auch eine gewisse Sensibilität gebracht. Den Wunsch, die Frauen zu verstehen, und auch das Bedürfnis, ihnen in meinen Büchern eine Hommage darzubringen.“
Der kleine Junge im Roman hat einen Schutzpatron: Faustin, den Schuhputzer. Jeden Morgen bringt er das Kind zur Schule, egal, ob er noch einen dicken Kopf vom vielen Schnapstrinken hat oder nicht.
„Dieser Faustin kämpft hartnäckig darum, auszuradieren, was Gott geschrieben hat, ein Schicksal, das ihn zu einem Elenden zu verdammen scheint, er kämpft um sein Schicksal – er will Hoffnung finden.“
Der Titel des Buches sagt, dass keiner seinem Schicksal entgehen kann. Anders als Faustin hat Dalembert nie mit seiner Biografie gehadert, im Gegenteil:
„Also, ich habe dreimal Glück in meinem Leben gehabt, nämlich erstens, dass ich ohne Vater aufgewachsen bin. Zweitens, dass ich unter einer Diktatur geboren wurde, und drittens, dass ich in die ärmste Linie meiner Familie hineingeboren worden bin. Und diese drei Faktoren haben mich zu dem Mann gemacht, der ich bin. Meine ganze Arbeit als Schriftsteller wurzelt in dieser Situation meiner Kindheit.“
Der Roman spielt in Salbounda, einem erfundenen Land, das an Haiti erinnert. Salbounda bedeutet: Sich den Hintern schmutzig zu machen. Ein Diktator lässt öffentlich widerständige Bürger hinrichten. Der Junge im Buch ist Zeuge des Verbrechens. Auch Haiti hatte viele Jahre unter Gewaltherrschern zu leiden. Heute ist es ein Land, das als ärmstes in der westlichen Hemisphäre gilt. Hungerkrisen führen zu schweren Unruhen, die politische Lage stabilisiert sich nicht. Aber das ist nur eine Seite des Landes:
„Was man in den Medien schnell vergisst, weil man Katastrophenmeldungen bringen will, ist, dass das ein Land ist, in dem es Leute gibt, die morgens aufstehen, die leben, die lieben, die Träume haben und Hoffnungen. Es ist auch ein Land, in dem gelebt wird, und das wird in den Medien oft unterschlagen.“
Dalembert schreibt über die alltäglichen Geschichten und Handlungen der kleinen Leute. Seine Großmutter war diejenige, die seine Phantasie angeregt hat. Obwohl eine energische Person, war sie doch auch eine treue Bibelleserin:
„Und da sie selbst keine gute Schulausbildung hatte, verstand sie sehr oft nicht alles, was sie in der Bibel las. Dann rief sie einen von uns, oft war das ich, damit er ihr erklärte, was sie gerade las. Und wenn wir es nicht erklären konnten, wurden wir oft bestraft. Und um eine Bestrafung zu vermeiden, erfand ich was.“
Im Roman muss der kleine Junge sein Viertel verlassen, weil die Familie umzieht. Als Erwachsener kehrt er an den Ort seiner Kindheit zurück, doch er findet nicht mehr das, was er dort einst hatte. Eine Erfahrung, die Dalembert selbst gemacht hat:
„Um einen Satz zu paraphrasieren, den jeder kennt: Man kann nicht zweimal in den selben Fluss steigen. Es ist unmöglich, zweimal dieselbe Geschichte zu erleben. Ich denke, die positivste Haltung ist die, gute Erinnerungen zu bewahren und vorwärts zu gehen.“
Nach Beenden der Schule machte Dalembert eine journalistische Ausbildung und studierte Literaturwissenschaft. Der heute 45-Jährige spricht sieben Sprachen. Er ist an vielen Orten zu Hause gewesen: Nancy, Paris, Rom, Jerusalem, Kinshasa. Er liebt das Unterwegssein. Darüber schreibt er in einem anderen Buch, „Die Insel am Ende der Träume“. Es ist ein leichtfüßiger und doch kraftvoller Roman mit Seefahrerromantik, einer Schatzinsel und frivolen Frauen.
„Ich glaube, das ist der Roman, in dem sich am ehesten niederschlägt, was ich erlebt habe, und meine Vagabundenträume.“
Heute lebt Louis-Philippe Dalembert abwechselnd in Paris, Florenz und in Port-au-Prince in Haiti. Nach welchem Ort er am meisten Sehnsucht hat?
„Das ist der Ort, den ich noch nicht kenne.“