Kinderwunsch entzweit Kulturen

Von Barbara Sichtermann |
Wie Frauen leben, das hängt vor allem mit ihrer kulturellen Prägung zusammen, glaubt die Publizistin Barbara Sichtermann. Doch wo sich traditionelle und moderne Lebensentwürfe begegnen, entstehen neue Möglichkeiten.
"Wir kriegen unsere Kinder. Ihr spült eure durchs Klo." Mit diesem krassen Satz in einer Gesprächsrunde hat eine Türkin den deutschen Mittelschichtfrauen ihre bittere Meinung gesagt. Es steckt eine Menge darin: Ärger über die Überheblichkeit von Karrierefrauen, die das Thema Kinder einfach weg hexen und sich angeblich nur um ihr Ego sorgen.

Auch moralische Überlegenheit der mehrfachen Mutter: Sie schickt sich in das, was Gott und die Natur von ihr fordern und verlangt Anerkennung dafür. Vielleicht spielt auch Furcht hinein, was von ihr gefordert wird in der Spätmoderne, die das Individuum und eben auch die Frauen aus den Familienverbänden herauslöst.

Kann man die Türkin verstehen? Aber ja. So wie sie die Welt sieht und sehen muss, weil sie da hineingeboren wurde, ist sie im Recht, wenn sie ihr Lebensmodell verteidigt. Und wenn sie die Arroganz und mangelnde Mütterlichkeit der West-Frauen, so wie sie sie erlebt, angreift – naja, damit ist sie nicht unbedingt im Recht, aber man kann sie verstehen.

Und was erwidert die deutsche Mittelschichtfrau? Sie ist erst einmal sprachlos. Aber dann sammelt sie sich und antwortet. Aus ihrer Sicht sind beide Lebensmodelle grundverschieden, auch nicht frei wählbar, schon gar nicht durch eine Entscheidung für oder gegen Kinder. In der mehrfachen türkischen Mutter und in der kinderlosen Karrierefrau begegnen sich zwei Zeitalter, zwei Gesellschaftsformen, die eine gewaltige Kluft voneinander trennt.

Und über diese Kluft hinweg sich zu verständigen ist schwer. Man muss laut rufen. Man muss einfache Worte wählen. Die Türkin hat das getan. Aber die Antwort, wenn sie denn stimmen und überzeugen soll, fällt komplizierter aus. Womöglich liegt hier das eigentliche Problem.

Die Kluft – worin besteht sie? Darin, dass die traditionalen Lebenswelten, die einst weltweit aus Stammes- und Clan-Formationen mit starker Familienbindung und religiöser Verpflichtung bestanden, sich im Westen zu so genannten modernen Gesellschaften entwickelt haben, in denen Familienbande sich lockern und Religion zur persönlichen Angelegenheit wird. In denen die Individuen über ihren Lebensweg bestimmen und nicht mehr Gott und der Clanchef.

Man mag zu dieser Entwicklung stehen wie man will, mag sich versagen, von rückständig oder fortschrittlich zu reden. Nur eines muss man den Frauen des Westens, ja weltweit den Frauen großer Städte zubilligen, dass auch sie in ihre Zeit und Umstände hineingeboren wurden. Sie müssen sich dort behaupten. Sie sollen, aber sie wollen auch ihre eigene Persönlichkeit entwickeln. Die Konsequenz ist sich zu entscheiden – im Extrem zwischen dem Weg der kinderlosen Karrierefrau oder der Mutter und Vororthausfrau mit Kind.

Kann die türkische Mutter das verstehen? Kann sie sich in die kinderlose Firmenchefin hineinversetzen? Es wird schwer für sie sein, vor allem, weil sie es kaum vermag, sich die Vorrechte des Patriarchen in ihrer Familie wegzudenken. Und der hätte für eine solche Chefinnen-Perspektive kaum Sympathien. Von Gott zu schweigen.

Zum Glück sind die Fronten nicht völlig verhärtet. Es strecken sich sozusagen von beiden Seiten Hände aus, welche die je andere erreichen wollen, um sie begütigend zu drücken. Es gibt auch in den westlichen Gesellschaften den Ruf nach mehr Kindern.

Auf der anderen Seite gibt es hier zu Lande viele junge Türkinnen, die es mit dem Kinderkriegen nicht eilig haben, die es sich sogar mit dem Heiraten überlegen und erstmal eine Ausbildung machen wollen. Die traditionalen und die modernen Lebenswelten kriegen ja auch miteinander zu tun, sie vermischen sich und wecken so außer Zank auch Verständnis.

Was beide Seiten durchs Klo spülen sollten, sind ihre Vorurteile und ihre Blindheit für die Lebensverhältnisse der je anderen Seite.

Barbara Sichtermann, Jahrgang 1943, lebt als freie Autorin in Berlin. Ihre letzten Buchveröffentlichungen: "Fünfzig Klassiker: Erotische Literatur" (mit Joachim Scholl) und "Was Frauen Sex bedeutet".
Barbara Sichtermann, Publizistin
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