Kinderrechte und Verantwortung
Die Einforderung von Rechten verschiedenster Art gehört zu unserem politischen Alltag. Abwechselnd wird das Recht auf Nichtraucherschutz, auf Arbeit, auf Mindestlohn, auf Gleichbehandlung unabhängig von Geschlecht, Religion und Weltanschauung beansprucht und zum Teil vor Gericht erstritten.
Die Welt scheint mit Rechten so zugepflastert, dass man von "Gerechtigkeitslücken" spricht oder von einer "gerechten Welt", in der diese oder jene Zustände unhaltbar sind. Wer hat diese gerechte Welt uns eigentlich gegeben, wer sie uns versprochen? Nun, es waren zweifellos die französischen Revolutionäre, die uns mit der Verkündung der allgemeinen Menschenrechte den Weg ebneten, und die amerikanischen, welche gar das Recht auf Glückseligkeit, verfassungsrechtlich festschrieben.
Allerdings gab es schon damals einige Misanthropen, die das für wenig praktikabel, ja grundsätzlich bedenklich hielten. Der von Goethe so geschätzte Justus Möser etwa konstatierte, dass die
"allgemeine Menschenliebe fast alle Bürgerliebe... verschlungen hat"; er argwöhnte, der Gebrauch großer Worte, mit denen wir unsere Ansprüche an die Gesellschaft vorbringen, verhülle unseren geringen Glauben an uns selbst.
Was hätte er, der noch dem Bibelwort gefolgt ist "Wer seine Kinder liebt, züchtigt sie", wohl zu der geforderten Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz gesagt? Hätte er das Wort "Rechte" ohne die komplementären und dennoch auf mysteriöse Weise aus unserer Begriffswelt verschwundenen "Pflichten" überhaupt in den Mund genommen? Oder hätte es ihm angesichts unseres Mangels an dessen, worüber wir diskutieren, nämlich der Kinder, glatt die Sprache verschlagen?
In weniger kinderfreundlichen Zeiten als den unseren wurden Kinder noch Gören, Wänster, Bälger und Blagen genannt. Sie kamen grundsätzlich nur im Plural vor, was kein Verdienst ihrer Eltern war, sondern der Heiligsprechung der Familie durch die Kirche und des Fehlens von Verhütungsmitteln. Es gab so viel Nachwuchs, dass Möser gegen die Einführung der Blatternimpfung polemisierte, weil diese Krankheit den schwächeren Kindern ein unwürdiges Fortexistieren erspare. In diesen finsteren Zeiten wurden Kinderarbeit, Unterordnung des Kindes unter das väterliche Gesetz, die Ausübung körperlicher Gewalt durch Eltern, Lehrer und andere Kinder als natürlich empfunden. Überhaupt herrschte die Natur: Sie gab die Kinder und nahm sie, sie sorgte dafür, dass sie ohne Rechtsschutz, aber in den meisten Fällen nicht ohne Fürsorge, ja Liebe aufwuchsen.
Heute ist das anders. Statt der Natur herrscht die Naturwissenschaft, und diese, so wie das Recht auf unsere persönliche Glückseligkeit, erlaubt es, so viele oder wenige Kinder zu bekommen, wie wir wollen. Wir können sie verhüten oder abtreiben, können versuchen, ihr Geschlecht zu bestimmen, können sie, wenn wir homosexuell sind, in manchen Ländern adoptieren, können sie durch künstliche Befruchtung oder, noch in hohem Alter, mit Hilfe von Hormonbehandlung empfangen. Unsere Kinder sind in der Regel nicht mehr Früchte der Leidenschaften, sondern sorgfältiger Planung. Sie verursachen Kosten, Sorgen und Mühen, von denen unsicher ist, ob sie sie uns eines Tages vergelten, so lange das Recht der Alten auf Pflege durch ihre Kinder noch nicht im Grundgesetz verankert ist. Es gibt deshalb so wenige Kinder, dass wir auf den Import schon erwachsener Menschen aus dem Ausland und ihre noch ungeschmälerte Fortpflanzungsfreude angewiesen sind.
Die wenigen Kinder aber, die wir haben, werden auf diese Weise zu Kostbarkeiten. Wir setzen ihnen Helme auf für den Fall, dass sie stürzen; wir lassen sie nicht allein auf die Straße und füllen ihre Kinderzimmer stattdessen mit Spielzeug, Fernseher und Computer; wir feiern opulente Kindergeburtstage und bauen ihnen kleine Parallelwelten als Spielplätze, auf denen wir sie nicht aus den Augen lassen; wir kleiden sie nicht mehr wie kleine Erwachsene, sondern uns wie große Kinder.
Tun wir das, damit sie sich nicht so allein fühlen? Geht es bei der geplanten Verankerung der Kinderrechte vielleicht darum, uns aus unserer Verantwortung zu stehlen und sie wieder einmal dem Staat zu übertragen? Es wäre ein Anzeichen dafür, dass wir tatsächlich verlernt haben, was Pflichten sind, in diesem Fall weniger die unserer Kinder als unsere eigenen.
Bernd Wagner, Schriftsteller, 1948 im sächsischen Wurzen geboren, war Lehrer in der DDR und bekam durch seine schriftstellerische Arbeit Kontakt zur Literaturszene in Ost-Berlin. 1976 erschien sein erster Band mit Erzählungen, wenig später schied er aus dem Lehrerberuf. Von Wagner, der sich dem Protest gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns anschloss, erschienen neben einem Gedichtband mehrere Prosabände und Kinderbücher. Als die Veröffentlichung kritischer Texte in der DDR immer schwieriger wurde, gründete Wagner gemeinsam mit anderen die Zeitschrift "Mikado". Wegen zunehmender Repression der Staatsorgane siedelte er 1985 nach West-Berlin über. Zu seinen wichtigsten Büchern zählen "Die Wut im Koffer. Kalamazonische Reden 1-11" (1993) sowie die Romane "Paradies" (1997) und "Club Oblomow" (1999). Zuletzt erschien "Wie ich nach Chihuahua kam".
Allerdings gab es schon damals einige Misanthropen, die das für wenig praktikabel, ja grundsätzlich bedenklich hielten. Der von Goethe so geschätzte Justus Möser etwa konstatierte, dass die
"allgemeine Menschenliebe fast alle Bürgerliebe... verschlungen hat"; er argwöhnte, der Gebrauch großer Worte, mit denen wir unsere Ansprüche an die Gesellschaft vorbringen, verhülle unseren geringen Glauben an uns selbst.
Was hätte er, der noch dem Bibelwort gefolgt ist "Wer seine Kinder liebt, züchtigt sie", wohl zu der geforderten Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz gesagt? Hätte er das Wort "Rechte" ohne die komplementären und dennoch auf mysteriöse Weise aus unserer Begriffswelt verschwundenen "Pflichten" überhaupt in den Mund genommen? Oder hätte es ihm angesichts unseres Mangels an dessen, worüber wir diskutieren, nämlich der Kinder, glatt die Sprache verschlagen?
In weniger kinderfreundlichen Zeiten als den unseren wurden Kinder noch Gören, Wänster, Bälger und Blagen genannt. Sie kamen grundsätzlich nur im Plural vor, was kein Verdienst ihrer Eltern war, sondern der Heiligsprechung der Familie durch die Kirche und des Fehlens von Verhütungsmitteln. Es gab so viel Nachwuchs, dass Möser gegen die Einführung der Blatternimpfung polemisierte, weil diese Krankheit den schwächeren Kindern ein unwürdiges Fortexistieren erspare. In diesen finsteren Zeiten wurden Kinderarbeit, Unterordnung des Kindes unter das väterliche Gesetz, die Ausübung körperlicher Gewalt durch Eltern, Lehrer und andere Kinder als natürlich empfunden. Überhaupt herrschte die Natur: Sie gab die Kinder und nahm sie, sie sorgte dafür, dass sie ohne Rechtsschutz, aber in den meisten Fällen nicht ohne Fürsorge, ja Liebe aufwuchsen.
Heute ist das anders. Statt der Natur herrscht die Naturwissenschaft, und diese, so wie das Recht auf unsere persönliche Glückseligkeit, erlaubt es, so viele oder wenige Kinder zu bekommen, wie wir wollen. Wir können sie verhüten oder abtreiben, können versuchen, ihr Geschlecht zu bestimmen, können sie, wenn wir homosexuell sind, in manchen Ländern adoptieren, können sie durch künstliche Befruchtung oder, noch in hohem Alter, mit Hilfe von Hormonbehandlung empfangen. Unsere Kinder sind in der Regel nicht mehr Früchte der Leidenschaften, sondern sorgfältiger Planung. Sie verursachen Kosten, Sorgen und Mühen, von denen unsicher ist, ob sie sie uns eines Tages vergelten, so lange das Recht der Alten auf Pflege durch ihre Kinder noch nicht im Grundgesetz verankert ist. Es gibt deshalb so wenige Kinder, dass wir auf den Import schon erwachsener Menschen aus dem Ausland und ihre noch ungeschmälerte Fortpflanzungsfreude angewiesen sind.
Die wenigen Kinder aber, die wir haben, werden auf diese Weise zu Kostbarkeiten. Wir setzen ihnen Helme auf für den Fall, dass sie stürzen; wir lassen sie nicht allein auf die Straße und füllen ihre Kinderzimmer stattdessen mit Spielzeug, Fernseher und Computer; wir feiern opulente Kindergeburtstage und bauen ihnen kleine Parallelwelten als Spielplätze, auf denen wir sie nicht aus den Augen lassen; wir kleiden sie nicht mehr wie kleine Erwachsene, sondern uns wie große Kinder.
Tun wir das, damit sie sich nicht so allein fühlen? Geht es bei der geplanten Verankerung der Kinderrechte vielleicht darum, uns aus unserer Verantwortung zu stehlen und sie wieder einmal dem Staat zu übertragen? Es wäre ein Anzeichen dafür, dass wir tatsächlich verlernt haben, was Pflichten sind, in diesem Fall weniger die unserer Kinder als unsere eigenen.
Bernd Wagner, Schriftsteller, 1948 im sächsischen Wurzen geboren, war Lehrer in der DDR und bekam durch seine schriftstellerische Arbeit Kontakt zur Literaturszene in Ost-Berlin. 1976 erschien sein erster Band mit Erzählungen, wenig später schied er aus dem Lehrerberuf. Von Wagner, der sich dem Protest gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns anschloss, erschienen neben einem Gedichtband mehrere Prosabände und Kinderbücher. Als die Veröffentlichung kritischer Texte in der DDR immer schwieriger wurde, gründete Wagner gemeinsam mit anderen die Zeitschrift "Mikado". Wegen zunehmender Repression der Staatsorgane siedelte er 1985 nach West-Berlin über. Zu seinen wichtigsten Büchern zählen "Die Wut im Koffer. Kalamazonische Reden 1-11" (1993) sowie die Romane "Paradies" (1997) und "Club Oblomow" (1999). Zuletzt erschien "Wie ich nach Chihuahua kam".