Kinderkrippen - ein Plädoyer für den goldenen Mittelweg

Von Astrid von Friesen · 28.06.2007
Wir Deutsche neigen zu emotionalen Extremen: Rabenmütter gegen Glucken gegen Egoistinnen gegen Väter, denen die frauendominierte Öffentlichkeit gleich alle Kompetenzen abspricht und sie notfalls aus den Familien aussondert.
Das westdeutsche Hausfrauenmüttermodell besagte, dass Mütter sowieso schuld seien an allen Macken und am Lebensunglück selbst ihrer 64-jährigen Kinder! Andersherum in der ehemaligen DDR: Da behaupten auch Menschen, die keinerlei Erinnerungen an ihre Kindheit haben, dass ihnen die Kinderkrippen ab dem ersten Lebensjahr, harte, emotionale entbehrungsreiche 10 Stunden am Tag in entsetzlich großen Gruppen von über 14 Kindern rein gar nichts geschadet hätten. Doch wissen wir Therapeuten, was es bedeutet keine Erinnerungen zu haben: Da muss Kummer, Schmerz und Verzweiflung aus dem Gedächtnis, schlimmer noch: aus den Gefühlen verdrängt werden.

Hinzu kommt die momentane hysterisch anmutende Diskussion um die Kleinkindererziehung. Schon wieder verbiesterte Kontroversen, als ob alle Kinder gleich wären und das Gleiche zum gleichen Zeitpunkt bräuchten und könnten. Schon wieder das Schreien nach Fixpunkten, nach Regeln, nach Verallgemeinerungen. Wobei vergessen wird, dass auch Babys Menschen sind und sich unterscheiden.

Bemühen wir einige schlichte Fakten und unseren gesunden Menschenverstand: Jeder dritte Erstklässler hat Sprachentwicklungsstörungen, weil seine Eltern nicht ausreichend mit ihm gesprochen, gelesen und gesungen haben. Und jeder zweite 15-jährige Teenager beklagt sich, dass seine Eltern sich nie "nur so" mit ihm unterhalten. Zwei katastrophale Zustandsberichte aus deutschen Familien. Da können wir nur laut nach Kinderkrippen und Ganztagsschulen schreien, allerdings mit kleinen, sehr kleinen Gruppen.

Gesichert ist auch das weltweit untersuchte Bindungsverhalten, welches ab dem ersten Lebensjahr mit einer Prognose von über 80 Prozent voraussagen lässt, ob dieses Kind sich günstig oder problematisch entwickeln wird. Ein sogenanntes sicher gebundenes Kind hat Urvertrauen, hat eine Mutter, welche feinfühlig, prompt, sich ihrer selbst sicher, angemessen und liebevoll auf ihr Kind reagiert. Dagegen haben unsicher gebundene Kindern Mütter mit innerlichem Stress, launische, überfordernde, gewalttätige oder tyrannische Mütter, eventuell auch depressive, süchtige und Mütter in Ehe- und Lebenskrisen.

Doch um eine sichere Bindung herzustellen, ist im Allgemeinen das erste Lebensjahr in inniger Intimität mit der Mutter notwendig. Das heißt, dass es für viele, nicht für alle Kinder traumatisch sein kann, schon nach Wochen ganztags seine Mutter vermissen zu müssen. Zumal wenn es in Gruppen kommt, wo eine Erzieherin sich quasi um Zehnlinge, nämlich um zehn Gleichaltrige kümmern muss bzw. wo das Personal oft wechselt. Auch führen zu große Kindergruppen natürlich zu aggressivem Verhalten, weil die Kinder um liebevolle Zuwendung buhlen und kämpfen müssen, sie leiden dann unter enormen Spannungen und emotionalem Hunger. Bei solchen Entbehrungen werden ja auch Erwachsene launisch und bösartig!

Wie immer im Leben: den goldenen Mittelweg und das individuell Richtige zu finden ist die schwierigste Übung. Natürlich gibt es Babys, die von ihrem Temperament, ihrer Sensibilität, ihrer physischen Gesundheit erst mit zwei oder drei Jahren reif für eine größere Gruppe sind - meist sind dies Jungen, denen zu große Gruppen schaden.

Und natürlich gibt es Familien, die ihre einjährigen Kinder bereits vor dem Fernseher verwahrlosen lassen und sie mit Süßigkeiten krank machen, Familien in denen Aggressivität und Unbeherrschtheit zum täglichen Muster gehören, weswegen diese Kinder frühestmöglich außerhäuslich betreut werden sollten. Aber auch hier gilt: die Gruppe muss klein sein. International gilt der Standart: Eine Erzieherin kann nur drei bis vier Babys gerecht werden! Das wäre ein gutes menschliches Maß! Auch sollte sie intensiv im Fach Säuglingsentwicklung und Psychologie ausgebildet und keineswegs nur auf die Sauberkeit fixiert sein.

Wie gesagt: Die individuelle Balance in der Pädagogik zu erreichen ist das Schwierigste. Eines jedoch ist immer notwendig: Jedes Familienmitglied, jede Freundin und Nachbarin sollte offen auf junge Mütter zugehen und ihr Hilfe beim Einkaufen, Babysitten und natürlich für Notfälle anbieten. Ebenso wichtig: die jungen Mütter sollten Hilfe auch akzeptieren! Denn, wie die Afrikaner sagen: Ein Kind braucht ein ganzes Dorf, um gesund aufzuwachsen.


Astrid von Friesen, Jahrgang 1953, ist Erziehungswissenschaftlerin, Journalistin und Autorin sowie Gestalt- und Trauma-Therapeutin in Dresden und Freiberg. Sie unterrichtet an der TU Bergakademie Freiberg und macht Lehrerfortbildung. Zwei ihrer letzten Bücher: "Der lange Abschied. Psychische Spätfolgen für die 2. Generation deutscher Vertriebener", Psychosozialverlag 2000, sowie "Von Aggression bis Zärtlichkeit. Das Erziehungslexikon", Kösel-Verlag 2003. Zuletzt erschien "Schuld sind immer die anderen! Die Nachwehen des Feminismus: frustrierte Frauen und schweigende Männer", Verlag Ellert & Richter.
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