Kinderillusionen
Das Ringen um die Kinderherzen, es war vor 40 Jahren - neben der Auseinandersetzung mit dem Staat – die zweite Hauptkampflinie aller Aufbruchsbewegten. Schließlich galt es nicht nur, überkommene Strukturen zu beseitigen, nein, auch ein neuer Mensch sollte geschaffen werden.
Also gehörten die Familienbeziehungen radikal umgekrempelt, wurde den Lehrern die Umwertung aller Werte zugedacht. Und tatsächlich geriet seitdem einiges in Bewegung: Das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern wurde von autoritären Verkrustungen befreit; der Schulunterricht vermittelt heute auch kritische Inhalte; und das Schulsystem als solches ist durchaus gerechter, weil durchlässiger geworden. So weit, so einseitig.
Worüber die Protagonisten von einst nämlich gerne hinwegsehen: Man muss den 68er Visionen auch allerlei riskante Nebenwirkungen bescheinigen. Mütter und insbesondere Väter gebärden sich heute zwar seltener autoritär – aber sie haben auch sonst viele Erziehungsgewissheiten verloren. Seit die Erfahrungen der eigenen Eltern nichts mehr gelten (Waren Ratschläge nicht immer auch Schläge?), seit traditionelle Wertorientierungen ausgedient haben, ist Familienleben zum Experimentierfeld, zur Verhandlungssache geworden. Das Resultat ist zwiespältig, teilweise bedrückend: Heute dürfen Kinder zwar mehr denn je – zur Not ihre Eltern auch mal schlagen -, aber sie sind auch unzufriedener als früher, mit sich, mit anderen, mit dem Leben. Die Übertragung politischer Kategorien – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - auf den Erziehungssektor war eben ein Systemfehler: Denn zu frühe Selbstbestimmung ist eine unnötige Bürde für Kinder, zu viel Bedürfnisbefriedigung führt zu Enttäuschungen, zu undeutliche Maßstäbe bewirken mangelnde Orientierung, fehlenden inneren Halt.
Und was ist mit dem Bildungssektor? Auch hier stimmen die Spätfolgen von 68 bedenklich. Zwar sind Pädagogen heute meist freundlicher und bemühter als mancher alte Pauker, aber ihnen fehlt es auch an beruflichem Selbstbewusstsein. Denn durch die kleine Kulturrevolution gerieten Lehrer in eine arge Zwickmühle: Keinesfalls mehr junge Menschen ans System anpassen, unbedingt aber sie optimal qualifizieren. Ein mörderischer Spagat, der für viele in Resignation endete. Ein spätes Relikt dieser Zeit ist der gegenwärtige Kult um selbstgesteuertes Lernen – verunsicherte Pädagogen, die meinen, sich überflüssig machen zu müssen, im naiv-trauten Zusammenspiel mit einer sparwütigen Kultusbürokratie und profitsüchtigen Bildungskonzernen.
Auch der traditionelle Schulstoff musste sich seinerzeit mannigfache Ächtung gefallen lassen. Statt fachlicher Begeisterung setzte man der Jugend lieber ein skeptisches, mithin düsteres Bild von Gesellschaft vor. Ob die derzeitige Flaute bei Ingenieursbewerbern ein später Nachhall davon ist? Oder geht hier die Saat einer jahrzehntelangen Spassorientierung des Lernens auf? Viele Innovationen vergangener Jahrzehnte haben sich jedenfalls als eigentümliche Mischung erwiesen: aus Sinnvollem und Halbwahrem, nicht zu Ende Gedachtem oder auch vollkommen Falschem. Das Ergebnis ist seit PISA zur Genüge bekannt.
Herbert Marcuse, einer der Stichwortgeber von ’68, pflegte auf die Frage nach Details der neuen Gesellschaft zu kontern, das Negative sei vorrangig, zum Positiven käme man noch früh genug. Nun, in der Pädagogik ist diese Strategie wohl gründlich gescheitert. Zwar haben die Achtundsechziger die Generationsbeziehungen kräftig gelüftet, aber sie konnten den Kinderherzen zu wenig neue Lebensgewissheiten bieten - so hatte die Befreiung auch etwas von Verödung an sich. Auch deshalb ist unser Nachwuchs für Medien- und Konsumverlockungen doch so empfänglich geworden – eine schöne Vorlage für das global entfesselte Kapital. Die zeitlose Parole "Wissen ist Macht" verfängt bei weiten Teilen der Jugend jedenfalls nicht mehr – ihnen gilt "Nichts wissen – macht auch nichts!" Dumm gelaufen, sagt man dazu heute wohl.
Dass eine kritische Pädagogik derart unkritische Früchte getragen hat, ist indes ebenso bedauerlich wie bezeichnend. Generell erscheinen die 68er als besonders tragisches Beispiel für die Logik des Misslingens, dieses charakteristische Risiko, das immer dann auftritt, wenn Menschen allzu unbedarft auf komplexe Systeme Einfluss nehmen. Wie schnell wurde aus dem bestenfalls gut Gemeinten das ursprünglich gerade nicht Gewollte!
Was waren das eigentlich für Leute, diese 68er, meist sympathisch in ihren Parolen, bisweilen kurzsichtig in der Sache, oft autoritär im Vorgehen? Ist es nicht die Generation der Kriegskinder, die so rigide an allem gerüttelt hat? In Angst und Entbehrung an der Mutterbrust gelegen, dann ohne Vater aufgewachsen, in der Adoleszenz mit dem Trauma des Holocaust belastet – ließ sich diese Bürde vielleicht am ehesten durch völlige Distanzierung, durch totale Verneinung, durch eine autoritäre Revolte aushalten? Der lange Schatten des Faschismus – auf die Pädagogik in Deutschland fällt er bis heute.
Michael Felten, geboren 1951, arbeitet seit 28 Jahren als Gymnasiallehrer für Mathematik und Kunst in Köln. Er ist Autor von Unterrichtsmaterialien und Präventionsmedien, Erziehungsratgebern und pädagogischen Essays. Dabei geht es ihm darum, den Praxiserfahrungen der Lehrer in der öffentlichen Bildungsdebatte mehr Gehör zu verschaffen. Frühere Veröffentlichungen: "Kinder wollen etwas leisten" (2000), "Neue Mythen in der Pädagogik" (2001), "Schule besser meistern" (2006). Kürzlich erschienen: "Auf die Lehrer kommt es an! Für eine Rückkehr der Pädagogik in die Schule". Eigene Website zu pädagogischen Themen: www.eltern-lehrer-fragen.de
Worüber die Protagonisten von einst nämlich gerne hinwegsehen: Man muss den 68er Visionen auch allerlei riskante Nebenwirkungen bescheinigen. Mütter und insbesondere Väter gebärden sich heute zwar seltener autoritär – aber sie haben auch sonst viele Erziehungsgewissheiten verloren. Seit die Erfahrungen der eigenen Eltern nichts mehr gelten (Waren Ratschläge nicht immer auch Schläge?), seit traditionelle Wertorientierungen ausgedient haben, ist Familienleben zum Experimentierfeld, zur Verhandlungssache geworden. Das Resultat ist zwiespältig, teilweise bedrückend: Heute dürfen Kinder zwar mehr denn je – zur Not ihre Eltern auch mal schlagen -, aber sie sind auch unzufriedener als früher, mit sich, mit anderen, mit dem Leben. Die Übertragung politischer Kategorien – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - auf den Erziehungssektor war eben ein Systemfehler: Denn zu frühe Selbstbestimmung ist eine unnötige Bürde für Kinder, zu viel Bedürfnisbefriedigung führt zu Enttäuschungen, zu undeutliche Maßstäbe bewirken mangelnde Orientierung, fehlenden inneren Halt.
Und was ist mit dem Bildungssektor? Auch hier stimmen die Spätfolgen von 68 bedenklich. Zwar sind Pädagogen heute meist freundlicher und bemühter als mancher alte Pauker, aber ihnen fehlt es auch an beruflichem Selbstbewusstsein. Denn durch die kleine Kulturrevolution gerieten Lehrer in eine arge Zwickmühle: Keinesfalls mehr junge Menschen ans System anpassen, unbedingt aber sie optimal qualifizieren. Ein mörderischer Spagat, der für viele in Resignation endete. Ein spätes Relikt dieser Zeit ist der gegenwärtige Kult um selbstgesteuertes Lernen – verunsicherte Pädagogen, die meinen, sich überflüssig machen zu müssen, im naiv-trauten Zusammenspiel mit einer sparwütigen Kultusbürokratie und profitsüchtigen Bildungskonzernen.
Auch der traditionelle Schulstoff musste sich seinerzeit mannigfache Ächtung gefallen lassen. Statt fachlicher Begeisterung setzte man der Jugend lieber ein skeptisches, mithin düsteres Bild von Gesellschaft vor. Ob die derzeitige Flaute bei Ingenieursbewerbern ein später Nachhall davon ist? Oder geht hier die Saat einer jahrzehntelangen Spassorientierung des Lernens auf? Viele Innovationen vergangener Jahrzehnte haben sich jedenfalls als eigentümliche Mischung erwiesen: aus Sinnvollem und Halbwahrem, nicht zu Ende Gedachtem oder auch vollkommen Falschem. Das Ergebnis ist seit PISA zur Genüge bekannt.
Herbert Marcuse, einer der Stichwortgeber von ’68, pflegte auf die Frage nach Details der neuen Gesellschaft zu kontern, das Negative sei vorrangig, zum Positiven käme man noch früh genug. Nun, in der Pädagogik ist diese Strategie wohl gründlich gescheitert. Zwar haben die Achtundsechziger die Generationsbeziehungen kräftig gelüftet, aber sie konnten den Kinderherzen zu wenig neue Lebensgewissheiten bieten - so hatte die Befreiung auch etwas von Verödung an sich. Auch deshalb ist unser Nachwuchs für Medien- und Konsumverlockungen doch so empfänglich geworden – eine schöne Vorlage für das global entfesselte Kapital. Die zeitlose Parole "Wissen ist Macht" verfängt bei weiten Teilen der Jugend jedenfalls nicht mehr – ihnen gilt "Nichts wissen – macht auch nichts!" Dumm gelaufen, sagt man dazu heute wohl.
Dass eine kritische Pädagogik derart unkritische Früchte getragen hat, ist indes ebenso bedauerlich wie bezeichnend. Generell erscheinen die 68er als besonders tragisches Beispiel für die Logik des Misslingens, dieses charakteristische Risiko, das immer dann auftritt, wenn Menschen allzu unbedarft auf komplexe Systeme Einfluss nehmen. Wie schnell wurde aus dem bestenfalls gut Gemeinten das ursprünglich gerade nicht Gewollte!
Was waren das eigentlich für Leute, diese 68er, meist sympathisch in ihren Parolen, bisweilen kurzsichtig in der Sache, oft autoritär im Vorgehen? Ist es nicht die Generation der Kriegskinder, die so rigide an allem gerüttelt hat? In Angst und Entbehrung an der Mutterbrust gelegen, dann ohne Vater aufgewachsen, in der Adoleszenz mit dem Trauma des Holocaust belastet – ließ sich diese Bürde vielleicht am ehesten durch völlige Distanzierung, durch totale Verneinung, durch eine autoritäre Revolte aushalten? Der lange Schatten des Faschismus – auf die Pädagogik in Deutschland fällt er bis heute.
Michael Felten, geboren 1951, arbeitet seit 28 Jahren als Gymnasiallehrer für Mathematik und Kunst in Köln. Er ist Autor von Unterrichtsmaterialien und Präventionsmedien, Erziehungsratgebern und pädagogischen Essays. Dabei geht es ihm darum, den Praxiserfahrungen der Lehrer in der öffentlichen Bildungsdebatte mehr Gehör zu verschaffen. Frühere Veröffentlichungen: "Kinder wollen etwas leisten" (2000), "Neue Mythen in der Pädagogik" (2001), "Schule besser meistern" (2006). Kürzlich erschienen: "Auf die Lehrer kommt es an! Für eine Rückkehr der Pädagogik in die Schule". Eigene Website zu pädagogischen Themen: www.eltern-lehrer-fragen.de