Kinderehen in Malaysia

Mit 13 verheiratet

27:29 Minuten
Protest in Dhaka im November 2015 gegen Frauengewalt.
Wie hier bei einem Protest in Bangladesch kämpfen auch in Malaysia Aktivistinnen gegen Gewalt an Frauen und Kinderehen. © imago/Zakir Hossain Chowdhury
Von Cora Knoblauch · 25.02.2019
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Malaysia ist ein modernes und aufstrebendes Land, dennoch sind Kinderehen weit verbreitet. Weil das aber nicht zum Image passt, werden Frauenorganisation, die den Missbrauch anprangern, oft zensiert. Nun aber sprechen die Betroffenen.
Aunty Sail war 13 Jahre alt, als sie verheiratet wurde.
"Eines Tages sagten meine Eltern zu mir: morgen kommen Leute zu uns und mit dabei ist ein Mann, der will Dich heiraten. Am nächsten Tag riefen mich meine Eltern vom Spielen rein. Da saßen all diese fremden Leute in unserem Haus. Mein Vater sagte: hier ist dieser Mann, der will dich heiraten. Und dann war ich verheiratet. Ich hatte den Mann noch nie gesehen. Es gab keine große Feier, keine Verlobung, nichts. Die Leute haben meinem Vater ein Brautgeld für mich bezahlt."
Aunty Sail ist heute 60. Mit 13 wurde sie verheiratet.
Aunty Sail ist heute 60. Mit 13 wurde sie verheiratet.© Deutschlandradio / Cora Knoblauch
Der Mann, den sie heiraten soll ist 17 – auch noch ein halbes Kind. Die Familien der beiden sind Christen, sie gehören zu der indigenen Volksgruppe der Murut Tagal und leben in den Bergen der Insel Borneo. Aunty Sail hat gerade die Grundschule beendet und möchte weiter lernen. Aber das ist zu teuer. Der Vater sucht lieber einen lukrativen Partner für seine 13-jährige Tochter. 500 Ringitt sind im Hochzeitsvertrag vereinbart. Umgerechnet etwa 100 Euro. Für die Familie damals viel Geld und eine willkommene Einnahmequelle. Was genau die Hochzeit für sie bedeuten soll, versteht das Mädchen nicht.

Was bedeutet überhaupt Hochzeit?

"Ich wusste, wenn Leute heiraten, dann gibt es schöne Kleidung, einen besonderen Sarong. Für mich gab es das alles nicht. Ich fühlte mich taub, mein Kopf war völlig leer. Als meine Eltern mich ins Haus rein riefen, hatte ich nur meine Alltagskleidung an, meinen einfachsten Sarong. Dann musste ich mit meinem Mann gehen. Ich fühlte nichts. Ich funktionierte einfach."
Aunty Sail ist heute 60 Jahre alt, fast genauso alt wie der Staat Malaysia selbst. Die kleine, zierliche Frau lebt mittlerweile in Kota Kinabalu, einer Hafenstadt im malaysischen Bundesstaates Sabah, auf Nord-Borneo. Die trostlose Kleinstadt ist ein beliebter Zwischenstopp bei chinesischen Touristen auf Tauchurlaub. Aunty Sail putzt in Kota Kinabalu Büros. Durch den Putzjob kam sie per Zufall in Kontakt mit einer Frauenrechtsorganisation. Hier hat sie zum ersten Mal ihre Geschichte erzählt:
"Mein Mann und ich hatten im Haus seiner Eltern ein Zimmer für uns alleine. Es war eines dieser traditionellen, typischen Langhäuser auf Stelzen, mitten im Dschungel. Die ersten Wochen hatten wir beide Angst voreinander. Wenn ich das Zimmer betrat, verließ mein Mann den Raum und umgekehrt. Keiner wollte mit dem anderen alleine sein. Die ersten beiden Wochen bin ich nachts in das Bett meiner Schwägerin gekrochen. Ich wollte unter keinen Umständen im selben Bett schlafen wie mein Mann. Meine Schwiegermutter war sauer auf uns und fragte: was ist los mit euch? Warum schlaft ihr nicht zusammen in einem Bett? Ab da schickte meine Schwägerin mich abends wieder zurück ins Ehebett.
Ich konnte kaum schlafen, fühlte mich als hätte ich Malaria. Ich habe gleichzeitig geschwitzt und gefroren. Ich habe mir meinen Sarong zwischen den Beinen zusammengeknotet und hab mich in die Laken eingewickelt. Ich wollte nur noch nach Hause zurück und nie wieder kommen. Nach ein paar Wochen sagte meine Schwägerin zu mir: ´Du musst Dich Deinem Mann hingeben oder ich verklage Dich vor dem Dorfgericht. Du musst´es` ihm geben. Wie eine Ehefrau!`Ich hab gefragt: ´Aber was? Was soll ich ihm denn geben?` Ich gab ihm doch alles. Ich hab für ihn gekocht und seine Wäsche gewaschen, was war da noch? Ich hatte überhaupt keine Ahnung! Was wollten die überhaupt von mir?"
Verschleierte Frauen udn Mädchen vor Mauer mit Graffiti.
60 Prozent der malaysischen Bevölkerung ist muslimisch. Christen, Buddhisten und Hindus machen rund 40 Prozent aus.© Deutschlandradio / Cora Knoblauch
Mit 14 bekommt Aunty Sail ihr erstes Kind. Einen Jungen. Sie bringt das Baby im Haus ihrer Schwiegerfamilie alleine zur Welt. Nur ihr Mann, zu dem Zeitpunkt selbst gerade mal 18, steht ihr bei. Von ihrer Mutter weiß Aunty Sail, dass sie das Baby lange stillen muss, um eine erneute Schwangerschaft so lange wie möglich hinauszuzögern. Mit 17 dann bekommt sie ihre zweites von insgesamt acht Kindern.

Aunty Sail bricht mit der grausamen Tradition

Auf Drängen von Aunty Sail zieht die Familie schließlich aus dem Dorf im Regenwald in die Hafenstadt Kota Kinabalu. Ein Onkel verschafft ihrem Mann dort einen Job in der Stadtverwaltung. Alle acht Kinder des Paares gehen bis zur elften Klasse zur Schule. Und keines wird minderjährig verheiratet. Darauf bestand nicht nur Aunty Sail, sondern auch ihr mittlerweile verstorbener Mann. Ihre Kinder sollten es besser haben:
"Für mein Schicksal ist nicht nur das Adat, das Gewohnheitsrecht in Sabah verantwortlich. Auch mein Vater trägt Schuld. Er hätte sich den Gewohnheiten im Dorf nicht so einfach beugen sollen. Als meine Eltern alt wurden und nicht mehr arbeiten konnten, kam mein Vater zu mir nach Kota Kinabalu und bat mich um Geld. Da sagte ich zu ihm, tut mir leid, dass ich dir das jetzt so sagen muss: aber als ich Kind war, konnte ich nicht das erreichen, was ich hätte erreichen können. Ich hätte weiter zur Schule gehen sollen. Stattdessen hast Du mich einfach verheiratet. Ich vergebe Dir und vergebe auch meiner Mutter. Aber wenn Du mich hättest zur Schule gehen lassen, wäre ich heute Lehrerin oder Krankenschwester. Dann könnte ich euch jetzt Geld geben. Aber ich bin nur eine Putzfrau. Ich habe nichts."
Dass ihre Lebensgeschichte es wert ist erzählt zu werden, ist Aunty Sail erst bewusst geworden, als sie die Arbeit der Frauenrechtlerinnen kennenlernt. Heute putzt sie nicht nur deren Büro, sondern nimmt auch an Vorträgen und Workshops der Organisation teil. Shareena Sheriff von der muslimischen Frauenrechtsorganisation Sisters In Islam engagiert sich seit Jahren für ein Ende der Kinderehen.
Die Petronas Zwillingstürme in Kuala Lumpur (Malaysia)
Malaysias Hauptstadt Kuala Lumpur zeigt sich modern. Kinderehen passen nicht zum Image.© imago stock&people
"Malaysia ist eigentlich in einer privilegierten Situation. Wir haben ein relativ gutes Gesundheitssystem, ein für die Region recht hohes Durchschnittseinkommen, keine Kriege und viel weniger Gewalt als andere Länder in Südostasien. Gerade deshalb sehen wir keinen offensichtlichen Grund dafür, dass die Rate an minderjährigen Bräuten immer noch und konstant so hoch ist. Nicht nur in ländlichen Gegenden werden weiterhin Jugendliche und Kinder verheiratet.
Auch in wohlhabenden, touristischen Bundesstaaten wie Penang zum Beispiel und in Städten werden diese frühen Ehen vollzogen. Und natürlich in Borneo, wo der Anteil an indigener Bevölkerung recht hoch ist, dort wird an alten Traditionen festgehalten. Und, das ist ein wichtiger Punkt, dort wo es keine gute Infrastruktur an Schulen gibt, dort werden Kinder und Jugendliche tendenziell früher verheiratet. Und wenn ein Kind aufhört zur Schule zu gehen, führt das häufig in eine frühe Ehe."

"Das Kind muss unter die Haube"

Neben mangelnder Bildung ist auch die weit verbreitete Vorstellung von Reinheit, ausgedrückt in der Jungfräulichkeit, ein wichtiger Grund dafür, weshalb insbesondere Väter nichts Schlimmes daran finden, ihre Töchter so früh wie möglich zu verheiraten.
"Dann ist die Pubertät bei Teenagern oft ein Alarmsignal für deren Eltern. Sobald ein Mädchen zu viel Interesse an Jungs zeigt, ist das für manche Eltern ein ganz klareres Signal: das Kind muss jetzt schleunigst unter die Haube. Diese Eltern sehen ihr Kind lieber verheiratet, als dass es eine Sünde begeht. Die Jungfräulichkeit der Mädchen ist der Stolz der Familie. Außerehelicher Sex ist das Schlimmste, was sich viele Eltern hier für ihre Kinder vorstellen können."
Die Frauenorganisation Sisters In Islam veranstaltet öffentliche Diskussionen zum Thema Kinderehen. Shareena Sheriff freut sich, dass immer häufiger auch interessierte Männer und Väter daran teilnehmen. Rund 2000 Mädchen im Jahr werden in Malaysia als Kinder verheiratet. Dabei ist nach offiziellem Bundesrecht die Eheschließung erst ab 18 gestattet. Zahlreiche Ausnahmeregelungen und parallele Rechtsprechungen wie zum Beispiel die Scharia oder das Traditionsrecht der Indigenen untergraben das offizielle Gesetz.

Frauenrechtlerinnen wie Shareena Sheriff und ihre Mitstreiterinnen, die ein Gesetz fordern, das für alle gilt, stehen ständig im Fokus von Auseinandersetzungen und müssen sich sogar gegen eine Fatwa zur Wehr setzen.
Plakate mit Strichmännchen
Kampagne gegen Kinderehen in Malaysia.© Deutschlandradio / Cora Knoblauch

Welche Rolle spielt Pädophilie?

Eine besonders hohe Rate an Hochzeiten von Minderjährigen verzeichnet auch die die Halbinsel Penang, im Nord-Westen Malaysias, nicht weit von der Grenze zu Thailand. Dort verheiraten bevorzugt chinesisch stämmige Familien ihre Mädchen im Falle von Teenagerschwangerschaften. Das Frauenzentrum in Penang arrangiert in solchen Fällen Treffen der betroffenen Familien und versucht, zugunsten des Mädchens zu intervenierten. Keine leichte Sache, berichtet Karen Lai.
"Worüber wir nicht öffentlich sprechen können, ist der patriarchale Backlash, den wir zurzeit erleben. Es geht hier nicht nur um Kinderhochzeiten. Es geht zum Beispiel auch um Pädophilie. Pädophilie, die im Namen von Religion und Gesellschaft akzeptiert wird. Es geht hier um die Kontrolle, die Männer über die Körper von Frauen ausüben: wie sie sich zu kleiden haben, ob sie zur Schule gehen, arbeiten und so weiter.
Wir reden hier immer über die Fälle von verheirateten Mädchen und missbrauchten Frauen als tragische Einzelschicksale. Aber das ist systemisch! Und wir als eine NGO, die sich für Frauenrechte einsetzt, können darüber nicht öffentlich sprechen. Man kürzt uns Gelder oder zensiert unsere Internetartikel. Immer wieder versuchen Politiker, uns auszuschalten. Es so wichtig zu verstehen, wie stark dieses staatlich geschützte System der Diskriminierung von Frauen und Kindern und auch anderen Minderheiten ist!"

Heirat nicht vor 18 - ohne Ausnahmen

2018 gelang der Opposition bei den Parlamentswahlen in Malaysia ein historischer Wahlsieg. Viele hofften auf einen Aufbruch und auf eine Reform der verkrusteten Strukturen und veralteten Gesetze. Aber das lässt auf sich warten. Die neue Regierung will zwar die Altersgrenze für Eheschließungen verbindlich für alle Malaysier auf 18 Jahre festlegen. Aber auch im Kabinett gibt es Widerspruch und es werden Ausnahmeregelungen gefordert. Shareena Sheriff von Sisters In Islam:
"Genau diese Ausnahmen sind das Problem. Die lokalen Gerichte erlauben ständig Ausnahmen! Eine Untersuchung hat gezeigt, dass über 80 Prozent der Anträge für Kinderhochzeiten von Schariarichtern stattgegeben wird. Meistens ist das Kind nicht mal anwesend, wenn über diese Hochzeit entschieden wird. Das verhandeln die Eltern mit dem Schariarichter ganz alleine. Wir haben einen langen Weg vor uns."
Drei junge Mädchen schneiden eine Hochzeitstorte an.
Immer mehr junge Mädchen werden während der Ferien in ihren Heimatländern verheiratet.© dpa/picture-alliance/epa Yahya Arhab
Um Kinderhochzeiten in Malaysia zu unterbinden, müsste eine ganze Kette von Maßnahmen greifen, sagen NGOs: eine bessere Infrastruktur und Schulen, die jungen Mädchen Bildung garantieren und auch junge Mütter aufnehmen. Von allgemeinem Sexualkunde-Unterricht können die Frauenrechtsorganisationen im Moment nur träumen.
Die viel zu früh verheiratete Aunty Sail hat ihren Kindern und Enkelkindern ermöglicht, einen anderen Weg einzuschlagen. Dennoch zieht sie eine bittere Bilanz:
"Ich hätte so viel mehr erreichen können, ich weiß das. Ja, ich bin frustiert. Ich bin 60 Jahre alt, ich bin nicht zufrieden. Ich bekomme zwar die kleine Rente von meinem verstorbenen Mann, aber das Geld habe ja nicht ich verdient, sondern er. Ich habe meinen Enkelkindern von meinem Schicksal erzählt. Sie haben mir versprochen, mich nicht zu enttäuschen und etwas zu machen aus ihrem Leben. Und ich habe ihnen gesagt, auch wenn es bei uns üblich ist, früh zu heiraten, macht es nicht! Heiraten könnt ihr euer ganzes Leben. Zur Schule gehen kann man nur einmal."

Diese Recherche wurde ermöglicht durch das Journalistenaustauschprogramm "Nahaufnahme" des Goethe-Instituts.

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