Kinderbücher mit anarchistischer Note

20.02.2013
Der Hanser Verlag hat zwei Klassiker der Kinderliteratur aus den 50er-Jahren neu aufgelegt. In den beiden Geschichten um eine niesende Kuh und ein malendes Strichmännchen-Baby wird die Ordnung für kurze Zeit außer Kraft gesetzt - und die Welt zum Fantasiegebilde.
Der Junge Fletcher hebt mit einer kleinen Nachlässigkeit die halbe Welt aus den Angeln. Und Harold schafft sich seine Welt gleich selbst. Städte, Berge, Schiffe, Meere und sogar den Mond - alles fabriziert er persönlich mit einem Stück Zauberkreide. Wer klein ist, braucht große Visionen.

"Die Kuh, die mal niesen musste" und "Harold und die Zauberkreide" heißen zwei Kinderbuch-Klassiker aus den 50er-Jahren, die der Hanser Verlag jetzt neu herausgebracht hat - keine schlechte Idee in einer Zeit, in der sich junge Menschen Vintage-verliebt in Retromöbeln rekeln und sogar Webseiten sich zunehmend am Design der Nierentisch-Ära orientieren.

Heimat der niesenden Kuh ist eine Farm irgendwo in Nordamerika. Fletcher lässt Flora zu lange im kalten Fluss stehen und Wasser trinken. Daheim im Stall macht die Kuh "Hatschi!" - und los geht die Kettenreaktion: Eine Maus wird aus ihrem Bettchen gefegt, die Katze setzt zum wilden Sprung an und landet versehentlich auf dem Ziegenbock. Der rennt panisch auf die Straße und findet sich auf dem Sattel eines Motorrads wieder. Eine Dampfwalze gerät in Bewegung, viel Zerstörungswerk nimmt seinen Lauf, die Welt wird gewalzt und in Stücke zerbrochen, dass es die wahre Freude ist. Im Finale geht alles in einem Riesenfeuerwerk auf, bevor das Happy End die Verhältnisse wieder gerade rückt.

Dass die niesende Kuh in den biederen 50er-Jahren einen Riesenerfolg hatte, verwundert nicht, versetzt James Floras Buch dem verordneten Anstand doch einen solchen Tritt, dass das Leben davon ganz kraftvoll und lebendig wird. Leidenschaftlich wirbeln die teils farbigen, teils schwarz-weißen Bilder auf den Buchseiten umher und füllen mit ihrer Explosion der Dinge und dem expressionistischen Strich das gesamte Format.

Frechheit und Fantasie, Witz und Abenteuerlust
Optisch schlichter, aber nicht weniger selbstbewusst kommt "Harold und die Zauberkreide" daher. Mit nichts als einem lilafarbenen Stück Kreide in der Hand schafft sich der kleine Harold, ein Strichmännchen-Baby, seine eigene Welt. Einen Weg malt er sich, auf dem er gehen kann, und einen Mond, dessen Licht ihn geleitet. Einen Wald malt er sich, der ihm Abwechslung bietet, und einen Baum, an dem Äpfel wachsen. Ein Drache soll die Äpfel beschützen - und reißt plötzlich den Rachen auf. Harold rennt davon, droht verloren zu gehen, sein Fantasie-Kosmos entfaltet ein riskantes Eigenleben. Doch immer weiß Harold sich Rat. Mit der Kreide malt er Boote, in die er flüchten kann, und Berge, die ihm Ausblick bieten. Wunderbar schlicht und elegant erzählt Crockett Johnson, was ein Mensch braucht, um sich die Welt anzuverwandeln: Frechheit und Fantasie, Witz und Abenteuerlust - und die mutige Idee des Augenblicks.

Spielerisch setzen beide Bücher die Ordnung für kurze Zeit außer Kraft, lassen die Welt zerspringen oder zum Fantasiegebilde werden und machen Mut, dass auch kleine Ursachen große Wirkungen hervorbringen können. Das hat eine feine, anarchistische Note - und wirkt bis heute höchst frisch und aktuell.

Besprochen von Susanne Billig

James Flora: Die Kuh, die mal niesen musste
Übersetzt aus dem Englischen von Saskia Heintz
Hanser Verlag, München 2013
40 Seiten, 14,90 Euro
ab 3 Jahren

Crockett Johnson: Harold und die Zauberkreide
Übersetzt aus dem Englischen von Anu Stohner
Hanser Verlag, München 2012
64 Seiten, 12,90 Euro
ab 3 Jahren