Kinderarbeit

"Kinder, die in der Illegalität arbeiten, anerkennen"

Ein kleines Mädchen bei Maurerarbeiten. Der Schutz von Kindern vor Ausbeutung, Kriegen und Krankheit in den armen Ländern soll Schwerpunkt der Kinderrechtsorganisation Terre des Hommes sein.
Ein kleines Mädchen bei Maurerarbeiten. © picture alliance / dpa / Theodoric Dom
Anja Dargatz im Gespräch Julius Stucke · 05.07.2014
In Bolivien dürfen Kinder ab 10 Jahre künftig legal arbeiten. Die neue Regelung sei ein Erfolg der organisierten Kinderarbeiter, sagt Anja Dargatz, Leiterin des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bolivien.
Ich begrüße Anja Dargatz. Sie leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bolivien. Schönen guten Morgen!
Anja Dargatz: Guten Morgen!
Stucke: Frau Dargatz, war das eine für Sie überraschende Entscheidung?
Dargatz: Für mich kam das sehr überraschend. Dass die Diskussion um die Umarbeitung des Kinderschutzgesetzes war im Gange. Das war ein langer Prozess, das war ein Resultat aus der neuen Verfassung 2009. Danach wurden alle Gesetze umgeschrieben, angepasst an die neue Verfassung, genauso wie das Kinderschutzgesetz. Und im Dezember letzten Jahres war das soweit abgeschlossen, durch die erste Kammer bestimmt, dass das in der alten Fassung so verabschiedet werden soll, in die zweite Kammer gehen soll. Und da standen die 14 Jahre, also was so die internationale Grenze für Kinderarbeit ist, stand die noch weiterhin so drin.
Und daraufhin hat die Kindergewerkschaft protestiert, ist wirklich nach La Paz gegangen, hat den Regierungssitz blockiert. Es kam auch zu Ausschreitungen. Und seitdem stand das still, dieser Gesetzesprozess. Und dass jetzt da eine Einigung, anscheinend ein Kompromiss gefunden wurde, weil die Kindergewerkschaft fordert überhaupt kein Alterslimit, um arbeiten zu dürfen. Aber es wurde anscheinend ein Kompromiss gefunden, der für alle tragbar war. Dass der jetzt möglich war, hat mich sehr überrascht, weil die Forderungen der Kinder doch sehr radikal sind und das Arbeitsministerium sich eigentlich immer dagegen gewehrt hat.
Stucke: Frau Dargatz, da haben Sie jetzt ganz viele Sachen gesagt, die schon im ersten Moment überraschen, nämlich: Sie haben von Kinderschutz gesprochen, Sie haben die Kindergewerkschaften angesprochen, also diese ja im ersten Moment verblüffende Sache, dass Kinder genau das gefordert haben, arbeiten zu dürfen, und zwar sogar noch früher. Das ist ja schon eine bemerkenswerte Sache, Kinder, die sich in Gewerkschaften organisieren und für ein Recht auf Arbeit kämpfen. Also: Wird die Situation der Kinder jetzt besser durch dieses Gesetz in Bolivien?
"Gewerkschaft der arbeitenden Kinder hat etwas erreicht"
Dargatz: Grundsätzlich bin ich generell skeptisch, dass die Situation durch Gesetze besser wird, aber das ist ein grundsätzliches Problem, die Implementation, die Umsetzung ist das Wichtige. Aber das Gesetz bleibt der erste Schritt. In der Tat gibt es eine Kindergewerkschaft, auch schon seit Langem, die ist über dreißig Jahre alt, hat 15.000 Mitglieder, die UNATSBO, also die Gewerkschaft der arbeitenden Kinder in Bolivien, und das Bemerkenswerte ist für mich, dass sie etwas erreicht haben.
Sie haben protestiert, und daraufhin hat sich sogar der Präsident mit ihnen zusammengesetzt – möglicherweise war das eine Propagandaveranstaltung, aber er hat es gemacht. Und wichtig ist, dass der Senat, also die zweite Kammer, jetzt beschlossen hat, ihren Forderungen zumindest entgegenzukommen, und das sehe ich als Fortschritt. Ob sich dadurch tatsächlich die Situation verbessert, muss man sehen, aber das ist der normale Schritt. Erst mal braucht man eine rechtliche Regelung, eine rechtliche Handhabe, dann kann man das umsetzen.
Stucke: Dass die Situation der Kinder in Bolivien nicht so besonders gut ist, das wird schon klar, sonst würden wir darüber nicht sprechen. Aber wie schlecht ist sie denn konkret, Frau Dargatz?
Dargatz: Es ist ein bisschen die Frage, ob man die Arbeitssituation von Kindern anhand der Anzahl der Kinder misst, die arbeiten müssen. Es ist ein hoher Prozentsatz von Kindern, die arbeiten. Es schwankt, es gibt verschiedene Quellen, die sind aber alle zwischen 20 und 30 Prozent der Kinder unter 18 oder der Menschen unter 18, die arbeiten. Das ist sehr viel mehr auf dem Land. Also die Zahlen, die ich habe, 34 von 100 Kindern auf dem Land arbeiten. In der Stadt sind es sieben von 100 Kindern. Also die Masse ist relevant.
Viele von ihnen arbeiten natürlich in ganz unmenschlichen Bedingungen. Gerade Kinder, die in Bergwerken arbeiten, Kinder, die schutzlos auf der Straße arbeiten. Eine andere Situation ist, wenn Kinder im Familienverband arbeiten. Da sind sie möglicherweise geschützter oder es ist möglicherweise eine kindgerechtere Arbeit, aber die Situation ist natürlich schwierig.
Und man darf sich auch nicht in die Tasche lügen, arbeiten für Kinder ist nicht gut. Das ist nicht – es gibt Studien, arbeitende Kinder, Gesundheitszustand, Bildungszustand von arbeitenden Kindern und nicht arbeitenden Kindern das soll nicht gefördert werden. Aber darum geht es auch nicht, sondern es geht darum, die Kinder, die jetzt in der Illegalität arbeiten, anzuerkennen und sie aus der Illegalität herauszuholen.
Länder des Globalen Nordens sollten arbeitende Kinder unterstützen
Stucke: Trotzdem ist natürlich die Frage, ob jetzt andere Länder wie Deutschland, andere Länder darauf reagieren sollten und Bolivien auch irgendwo ein Stück weit unter Druck setzen. Denn es kann ja nicht sein, dass man sagt, na ja, gut, rechtlich ist es besser geregelt jetzt für die Kinder, das ist schon mal ein Fortschritt, aber wir drücken ein Auge zu und schauen zu, wie Kinder da weiterhin arbeiten müssen?
Dargatz: Die ehrliche Reaktion, fände ich, von Leuten – also von wohlhabenden Ländern, von Ländern, die Entwicklungshilfe anbieten, die Kooperation anbieten, wäre, in diesen Prozess einzusteigen, und gerade die große Schwachstelle, die ich sehe – weil die Kinder ab zehn oder zwölf, also ab zehn unabhängig und ab zwölf in angestellter Art und Weise, dürfen nur mit einer Genehmigung arbeiten und sollen eigentlich laut der Rechtsprechung jetzt begleitet werden.
Also zum Beispiel der örtliche Kinderschutzbeauftragte soll zu den Familien gehen, soll gucken, wie das Kind arbeitet und soll das Kind sozusagen in seinem Arbeitsprozess begleiten. Finde ich eine sehr innovative Idee. Ich habe meine Zweifel, dass das in Bolivien so umgesetzt wird angesichts der generell schwachen Institutionen.
Und hier könnte zum Beispiel eine Entwicklungshilfe, ein Programm sehr schön einsteigen und helfen und damit zeigen, wir finden es nicht gut, dass Kinder arbeiten, aber wir nehmen die Realität, wie sie ist, und holen die Kinder, wie man so schön sagt, da ab, wo sie sind – mit dem Ziel aber, dass sie auch eine Schulausbildung genießen und dass vielleicht die zukünftigen Kindergenerationen nicht mehr arbeiten müssen.
Stucke: Also, so grotesk es klingt, eine Vereinbarkeit von Schule und Arbeit, Sie haben es gesagt, damit zukünftig keine Kinder mehr arbeiten müssen. Das ist auch so eine der paradoxen Erklärungen gewesen: Wir müssen Kinderarbeit erlauben, damit wir sie irgendwann nicht mehr brauchen. Was ist denn Ihre Prognose? Kommt es dazu? Braucht man die irgendwann nicht mehr in Bolivien?
Dargatz: Ganz langfristig – man soll ja nie aufhören zu träumen – ganz langfristig ist das vielleicht möglich. In den nächsten 40, 50 Jahren sehe ich das nicht, weil Kinder ein Bestandteil der Wirtschaft sind. Und es muss jetzt darum gehen, ihnen eine menschenwürdige Arbeit zu geben, es muss darum gehen, die schlimmsten Formen der Ausbeutung abzuschaffen. Und darüber wird sich dann, auch mit dem generell wachsenden Entwicklungsstand, nach und nach die Kinderarbeit hoffentlich selber auflösen. Aber das im Moment zu fordern, ist absolut unrealistisch und wirtschaftschädigend.
Stucke: Kinderarbeit in Bolivien. Das war Anja Dargatz. Sie arbeitet für die Friedrich-Ebert-Stiftung in Bolivien. Frau Dargatz, danke Ihnen, und einen schönen Tag!
Dargatz: Danke, vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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