Kinderärzte gegen Pflicht-Vorsorgeuntersuchung

Moderation: Birgit Kolkmann |
Der Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte, Wolfram Hartmann, hat sich gegen eine Pflicht zur Vorsorgeuntersuchung von Kindern ausgesprochen. Derzeit seien die Früherkennungsuntersuchungen kein geeignetes Instrument, um Kindesvernachlässigung und -misshandlung sicher zu diagnostizieren, sagte Hartmann.
Birgit Kolkmann: Tausende Kinder werden in Deutschland vernachlässigt, misshandelt, von den eigenen Eltern erschlagen oder verhungert, gequält und ignoriert, schlechter versorgt als die Haustiere. Der Fall Jessica in Hamburg, einer der ganz spektakulären. Seit dem vergangenen Jahr wird auch in der Öffentlichkeit dieses Problem auf der Schattenseite der Gesellschaft stärker diskutiert. Die Politik versucht, bessere Vorsorge im Gesundheitsbereich zu fördern. Die Polizei zum Beispiel in Berlin ermittelt mit einer eigenen Gruppe von Spezialisten besonders intensiv. Auch die Kinderärzte haben sich in die Diskussion eingeschaltet. Heute wird sie beim 8. Forum Gesundheits- und Sozialpolitik in Berlin fortgesetzt. Zum Gespräch im Deutschlandradio Kultur begrüße ich den Präsidenten des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte. Guten Morgen, Professor Wolfram Hartmann.

Wolfram Hartmann: Guten Morgen.


Kolkmann: Herr Hartmann, wie können Kindesmisshandlungen verhindert werden, wie sieht Ihr Konzept aus?

Hartmann: Ein ganz entscheidender Punkt ist, dass man den Eltern niedrigschwellige Hilfe anbietet, das heißt, man muss die Eltern aufsuchen und muss ihnen helfen bei Problemen im Umgang mit Kindern.

Kolkmann: Die Vorsorgeuntersuchungen könnte man ja zum Beispiel auch koppeln an Bonus-Malussysteme wie zum Beispiel in Österreich und den USA, dass man halt Kindergeld zum Beispiel nur dann zahlt, wenn auch die Untersuchungen beim Arzt absolviert werden.

Hartmann: Das scheint nach Auskunft der Fachpolitiker eine schwierige Lösung zu sein. Man muss aber auch daran erinnern, dass die Kinderfrüherkennungsuntersuchungen derzeit noch Krankheitsfrüherkennungsuntersuchungen sind, also kein geeignetes Instrument, um Kindesvernachlässigung und Kindesmisshandlung sicher zu diagnostizieren. Außerdem haben wir zwischen diesen Früherkennungsuntersuchungen zum Teil so große Abstände, dass wir die Kinder ein oder sogar zwei Jahre überhaupt nicht sehen, so dass man also mit diesem Instrument dieses Problem nicht lösen kann. Die Kinderfrüherkennungsuntersuchungen können nur ein kleiner Baustein in einem Gesamtkonzept sein, aber man darf sich auf gar keinen Fall der Täuschung hingeben, dass man mit einer Intensivierung der Kinderfrüherkennungsuntersuchung das Problem lösen könnte.

Kolkmann: Sie sprechen von einem System, das viel besser ausgebaut werden müsste. Was müsste denn genau passieren, damit Sie als Ärzte, aber nicht nur Sie allein, die Familien besser betreuen könnten?

Hartmann: Also es gibt ja zwei Lösungswege. Der eine Lösungsweg ist, alle Kinder zu betreuen und Familien nicht zu stigmatisieren als Risikofamilien. Das wird ja in skandinavischen Ländern zum Beispiel gemacht. Das wäre ein optimaler Weg, der natürlich teuer ist. Die andere Möglichkeit ist, dass wir Risikofamilien identifizieren. Die Möglichkeiten dazu haben wir. Wir wissen, was Risikofamilien sind, und wir könnten ein frühes Netzwerk bilden unter Einschaltung von Kliniken, Familienhebammen, Frauenärzten, Kinder- und Jugendärzten, Sozialarbeitern und Sozialpädagogen, dem Kinderschutzbund zum Beispiel. Also das muss fachübergreifend sein. Diese müssen aber in einer gemeinsamen Clearing-Stelle vernetzt sein. Das ist ganz entscheidend, dass sie vernetzt sind und dass nicht Dinge passieren, wie wir sie gerade in dieser Woche wieder gehört haben von dem kleinen Benjamin aus Sachsen-Anhalt, wo zwar Behörden eingeschaltet waren, es aber daran gescheitert ist, dass das Familiengericht den Fall über Monate hat liegen lassen, Aktenstapel auf Aktenstapel gehäuft hat und sich das Kind nicht angesehen hat. In solchen Fällen, in denen der Verdacht besteht, dass das Kindeswohl gefährdet ist, ist sofortiges Handeln erforderlich. Das heißt also, wenn ein Jugendamt oder ein Nachbar oder die Polizei dem Familienrichter einen Hinweis gibt, hier ist das Kindeswohl aus unserer Sicht gefährdet, hier muss das Kind möglicherweise aus der Familie genommen werden, hat der Familienrichter innerhalb von 24 Stunden sich ein persönliches Bild von der Familie zu machen und einzugreifen. Es kann nicht sein, dass wie in diesem Fall des jungen Benjamin neun Monate vergehen, bis das Gericht beginnt zu handeln. Da war das Kind längst tot. So etwas ist einfach nicht akzeptabel. Wir müssen eine enge Vernetzung haben, und es muss sofort gehandelt werden. Das Kindeswohl muss an oberster Stelle stehen, und Kinder sind nun mal die schwächsten Glieder in der Gesellschaft, und hier können wir nicht bürokratisch handeln.

Kolkmann: Also Elternrechte enden da, wo Kinder zu Schaden kommen?

Hartmann: Auf jeden Fall. Das Grundgesetz sieht es ja in Artikel 6 auch vor. Da steht natürlich vom Recht der Eltern zunächst etwas, aber es steht auch von der obliegenden Pflicht und vom Recht des Kindes. Vielleicht könnte man das noch etwas geschickter formulieren, dass im Grundgesetz steht, dass jedes Kind ein Grundrecht auf körperliche und seelische Unversehrtheit hat und dass der Staat verantwortlich dafür ist, dem Kind zu diesem Recht zu verhelfen.

Kolkmann: Kindesmisshandlungen sind keine Privatsache. Wenn ein solches Netzwerk, wie Sie es aber beschreiben, aus Ärzten, Sozialarbeitern etc. tätig wird bei so genannten Risikofamilien, könnte natürlich schnell der Eindruck entstehen, dass da so eine Art Gesundheits- und Sozialpolizei auftritt. Ist es besonders wichtig, da eine Atmosphäre des Vertrauens zu schaffen?

Hartmann: Das ist ganz entscheidend. Deswegen bin ich auch dafür, dass das nicht das Jugendamt federführend macht, sondern das Gesundheitsamt. Dann könnte man das geschickter formulieren. Dann könnte man das als Familiengesundheitsfürsorgerin bezeichnen oder eben auch diese Familienhebamme, die hat ja auch nicht unbedingt einen negativen Beigeschmack. Sie muss natürlich entsprechend qualifiziert sein. Die jetzigen Hebammen sind in ihrer Ausbildung für diese Aufgabe nicht vorbereitet, und diese Hebammen müssten dann beim Gesundheitsamt angesiedelt sein. Das wäre aus meiner Sicht der derzeit günstigste Weg. Das würde auch die Diskussion um diese Pflichtvorsorge etwas entschärfen, denn wer soll denn die Pflichtvorsorge überwachen, und wie sollen die Konsequenzen sein, wenn Eltern dieser Pflicht nicht nachkommen? Das muss man ja auch diskutieren, wenn man das Thema anschneidet, und wir könnten uns vorstellen, dass bei den Kindern, bei denen diese Familienhebammen feststellen, die Vorsorgen sind nicht komplett durchgeführt worden, dass dann ein Kinder- und Jugendarzt des Gesundheitsamtes die Vorsorgeuntersuchung vornimmt.

Kolkmann: Vernachlässigung, Misshandlung von Kindern gibt es in allen gesellschaftlichen Schichten. Geht es eigentlich insgesamt auch um ein anderes gesellschaftliches Klima, die Frage nämlich, was uns die Gesundheit und auch die psychische Integrität unserer Kinder wert ist?

Hartmann: Natürlich, aber wir haben heutzutage eine völlig andere Familiensituation als früher. Früher waren das Großfamilien. Da gab es Hilfen für überlastete junge Mütter. Das gibt es heute nicht mehr. Wir haben heute natürlich auch vielfach allein erziehende Mütter. Wir haben eine zunehmende Zahl von abhängigen Müttern oder auch Eltern, die also alkoholabhängig sind. Dann spielt eine ganz wesentliche Rolle die Arbeitslosigkeit. Wir kennen Familien, die ja über zwei Generationen arbeitslos sind. Da ist natürlich die Motivation, sich optimal um Kinder zu kümmern, nicht vorhanden. Diese Familien brauchen Hilfe. Das ist nicht immer Böswilligkeit der Familien, sondern es gibt auch Familien, die einfach unfähig sind, dem Kind die notwendige Fürsorge zukommen zu lassen, und wenn man denen niedrigschwellig hilft, kann man die Kinder durchaus in der Familie belassen. Die brauchen aber eine ständige Betreuung.

Kolkmann: Vielen Dank. Das war Professor Wolfram Hartmann, der Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte zu Präventionsmaßnahmen gegen die Misshandlung, Vernachlässigung von Kindern.