Kinder und Alte unter einem Dach

Der Schweizer Dokumentarfilmer Dieter Fahrer zeigt in seinem Film "Que sera" die Bewohner eines Altersheims in Bern, die im selben Haus wie eine Kindertagesstätte wohnen. Fahrer beobachtet die Begegnungen zwischen den Kindern und den Alten und plädiert für ein lebendiges Zusammenleben der Generationen.
Ellmenreich: Urahne, Ahne, Mutter und Kind. Die Zeiten, dass drei, wohlmöglich vier Generationen wirklich noch in einer Stube beisammen sind, sind schon lange vorbei. Die Urgroßmutter lebt im Altersheim. Die Großeltern wohnen am anderen Ende des Landes und bekommen Kinder und Kindeskinder nur zu Weihnachten und in den Sommerferien zu sehen.

In Bern in der Schweiz hat vor drei Jahren ein Projekt begonnen, dass das generationenübergreifende Zusammenleben quasi künstlich herbeiführt. 90 alte Menschen und 20 Kinder, Bewohner eines Altenheimes und einer Kinderkrippe, leben in unmittelbarer Nachbarschaft. Dieter Fahrer hat als Dokumentarfilmer dieses Experiment begleitet. Sein Film "Que sera?" kommt heute in Deutschland in die Kinos. Herr Fahrer, welche Geschichten erzählen Sie in Ihrem Film? Worum geht es genau?

Fahrer: Ich erzähle vor allem aus der Nähe dieser alten Menschen heraus. Das ist sozusagen meine Position, eine ganz subjektive. Ich verbringe ganz viel Zeit mit diesen Menschen - so habe ich auch gearbeitet - und es geht mir ganz stark darum, mit ihnen zu erleben, was diese letzte Lebensphase im Heim für sie bedeutet.

Ellmenreich: Diese Nähe zu den alten Menschen, Ihre subjektive Perspektive, woher kommt die? Haben die mehr zu erzählen, sind das "interessantere Menschen" im Gegensatz zu den Kindern, die vielleicht noch gar nicht so viel zu berichten haben?

Fahrer: Das mag die eine Geschichte sein, dass natürlich jemand, der ein ganzes Leben, ein ganzes Jahrhundert gelebt hat, unheimlich viel zu erzählen hat, und alte Menschen tun das unheimlich gerne, von früher berichten, und haben selten Zuhörer. Die sitzen dann im Heim, warten auf das Frühstück, auf den Besuch, der wieder nicht kommt, warten auf den Abend, sie warten auf den Tod. Es ist ein endloses Warten in einem Ghetto, wo sie eingesperrt sind.

Das ist bestimmt ganz wesentlich, diese Tiefe, dieser Sog eines jeden gelebten Lebens, der einfach so unheimlich reich ist. Dass ich mich dann für diesen Standpunkt entschieden hatte, hat natürlich damit zu tun, dass es für mich ein richtiger Schock war, als ich da reinkam.

Ellmenreich: Was genau hat Sie schockiert, welche Bilder, welche Geschichten?

Fahrer: Ich war als Kind einmal im Altersheim bei meinem Großvater, aber ich hatte keine wirkliche Erinnerung mehr daran. Als ich dann gesehen habe, dass diese Menschen nur noch in der Warteschleife hängen, wie sie stillgelegt sind, wie sie keine Achtung mehr kriegen, wie sie keine Aufgaben mehr haben, sie, die ein ganzes Leben oft mit ihren Händen wirklich streng gearbeitet haben, viel strenger als wir heute, haben plötzlich nichts mehr zu tun, und das wollen sie gar nicht.

Ellmenreich: Höre ich da Kritik am Pflegepersonal durch?

Fahrer: Überhaupt nicht. Die Schönegg ist ein sehr gut geführtes Heim, würde ich mal sagen. Natürlich gibt es Sachen, die man verbessern kann. Nein, Sie hören Kritik am System.

Ellmenreich: Was für Bilder sehe ich, wenn ich mir den Film anschaue? Sehe ich wirklich das Warten, sehe ich die alten Menschen im Rollstuhl sitzen und ab und zu die Kinder oder welche Geschichten, welche Episoden?

Fahrer: Ich glaube, der Film ist ganz reich an allen Gefühlen. Es ist ein trauriger Film, aber es ist auch ein unheimlich lustiger Film. Es gibt so viele schalkige Geschichten, auch gerade mit dementen Menschen, die ihren Kopf nicht mehr so genau haben. Da gibt es diese Frau Sutter, diese 96-jährige Baslerin, die eigentlich so ziemlich alles vergessen hat, außer dass sie Baslerin ist, und die eigentlich auch nicht wirklich weiß, dass sie so alt ist, die dann ihrer Freundin im Heim auch sagt, so alt sind wir ja gar nicht, dabei ist sie 96. Es ist auch manchmal schwarzer Humor.

Ellmenreich: Wie reagiert diese Frau Sutter auf die Kinder?

Fahrer: Frau Sutter ist gerade die Person, die dauernd irritiert ist. Sie erwacht morgens und muss sich fragen, was muss ich machen, wohin soll ich gehen? Sie weiß ja nichts mehr, und sie ist öfters massiv irritiert durch die Kinder.

Ellmenreich: Was ist denn aber das Ziel? Frau Sutter zu irritieren, ist wahrscheinlich nicht das Ziel, diese beiden Einrichtungen so nahe aneinander gesetzt zu haben. Was ist für beide Seiten das Ziel?

Fahrer: Wie Sie gesagt haben, die Oma ist heute weit weg. Es gibt viele Kinder heute, die mit alten Menschen überhaupt nichts mehr zu tun haben. Das Bild, das uns die Werbung vermittelt, die flotten Alten, man sagt ja jetzt auch, die Jungalten, die auch eine Lobby haben, weil sie ein Marktfaktor sind, sie reisen nach Spanien, machen Kurse, geben Geld aus, und sie werden von der Wirtschaft richtig beackert. Aber die Altalten, wo es dann um Abbau geht, wo es dann um Sterben geht, die will man lieber gar nicht mehr sehen.

Ellmenreich: Das klingt aber für mich jetzt so, als wäre das nicht zuletzt, um den Kindern etwas Gutes zu tun, deren Großeltern eben nicht am Ort wohnen. Inwiefern profitieren die alten Menschen von diesem Zusammenleben mit den kleinen Menschen?

Fahrer: Man muss erst mal aufpassen, von alten Menschen generell zu sprechen. Alte Menschen sind genauso verschieden wie junge Menschen oder wie wir es sind. Ein Mensch ist ein Mensch. Aber es gibt eben dabei sehr viele, für die es gerade in diesem Warten, in dieser Leere eine unheimliche Bereicherung ist, Kinder mit ihrer Direktheit, wie sie auf die alten Menschen zugehen, Kinder, die Fragen stellen, warum sitzt du im Rollstuhl oder warum hast du keine Brille, wenn die Frau sagt, sie sieht nicht mehr gut, und die Frau sagt, ich bin zu alt, für mich gibt es keine Brille mehr. Also das sind auf einer ganz einfachen und klaren Alltagsebene Begegnungen. Die alten Menschen und die Kinder sind sich sehr nahe.

Ellmenreich: Haben Sie mit der Kamera gestört, bei solchen Dialogen dabei zu sein? Haben das Kind auf der einen Seite, der alte Mensch auf der anderen Seite sich davon stören lassen, dass da eine Kamera beobachtet?

Fahrer: Nein, das glaube ich nicht. Das hat aber mit Arbeitsweise zu tun. Ich war sehr lange da, ohne Kamera ganz lange, und hatte das Gefühl, immer nur der Besucher zu sein. Ich wurde dann eingeladen, auch dort zu arbeiten. Also, ich war dann Hilfspfleger im Haus über Monate, auch im weißen Kittel.

Ellmenreich: Also als freiwilliger ehrenamtlicher Helfer?

Fahrer: Genau. Mit dem Privileg, dass ich nicht im Pflegeplan eingebunden war. Also ich hatte einfach unheimlich viel Zeit. Ich konnte auch einfach zwei, drei Stunden bei jemandem sitzen, der vielleicht nicht mal mehr verbal kommunizieren kann. Wir entdeckten da neue Kommunikationskanäle. Wir berühren uns zum Beispiel in unserer Kultur nicht. Berührung war für mich wieder etwas ganz Neues, was für alte Menschen unter Umständen eine schöne Form zu kommunizieren ist.

Ellmenreich: Was sicherlich auch die Kinder zu geben wissen. Als Sie da mit der Kamera dabei waren, gab es für Sie Grenzen der Diskretion? Sie haben vorhin schon Tod, Krankheit angesprochen.

Fahrer: Ja, natürlich. Es war auch etwas wirklich Schwieriges in gewissen Situationen, was drehe ich überhaupt? Oder noch mal im Schneideraum, was stelle ich jetzt in den Film rein? Also im Moment des Todes, in dieser letzten Phase überhaupt eine Kamera dabei zu haben, ist für mich nicht drin. Das muss man nicht zeigen. Da braucht es keine Kamera.

Ellmenreich: Was haben Sie für Lehren aus dieser langjährigen Arbeit beschlossen? Würden Sie - Sie sind Jahrgang 58 - in zwei, drei Jahrzehnten sich vorstellen können, in so eine Einrichtung zu gehen und dort zu leben?

Fahrer: Nein, absolut nicht. Ich hoffe auch, dass es Altersheime bald nicht mehr gibt. Ich meine, Pflegeheime, das brauchen wir, keine Frage. Es gibt einfach Menschen, die so krank sind und Pflege benötigen, da brauchen wir Heime. Aber Altersheime, das ist auch eine ganz junge Idee. Wir sind einfach in eine Zeit hineingewachsen, wo es Altersheime gibt.

Ellmenreich: Und diese Zeit ändert sich wieder? Haben Sie die Hoffnung, dass Familien die alten Menschen, Großeltern, Urgroßeltern wieder bei sich aufnehmen?

Fahrer: Kaum. Ich meine, die Großfamilie war ja nicht nur eine Idylle. Es gab auch gute Gründe, dass wir uns von der Großfamilie wegbewegt haben. Wir müssen ganz neue Formen finden.

Ellmenreich: Was könnten solche neue Formen sein?

Fahrer: Ich glaube, es braucht Strukturen, die altersgemischt sind. Ich erachte es als wirklich nicht gut, dass wir dazu neigen, alle Altersgruppen zu trennen, die Kinder kommen in Kindertagesstätten, die Alten kommen ins Heim und dazwischen hecheln die Werktätigen irgendwie ihren Terminkalender durch. Das kann doch das Leben nicht sein.

Ellmenreich: Welche Formen könnte es geben?

Fahrer: Ich kann ein konkretes Beispiel geben, was bei mir passiert. Also ausgelöst auch durch die Arbeit an diesem Film baue ich im Moment ein kleines Dörfchen in Weiler. Also ich habe mit einem Freund einen schönen Platz gekauft am Neuenburger See, ein kleines Schlösschen mit viel Land, und wir sind dabei, ein Projekt aufzubauen, wo verschiedenste Menschen zusammen sind.

Ellmenreich: Also dann doch so etwas wie, ich habe es vorher künstlich herbeigeführte Großfamilie genannt?

Fahrer: Was heißt schon künstlich? Ich meine, es ist mir ein echtes Anliegen. Es ist ja nicht so, dass ich irgendwie alte Menschen bemuttern oder pflegen will. Ich mag alte Menschen, und zu den alten Menschen gehört, dass sie zum Beispiel Pflege benötigen. Aber es gehört zu ihnen auch, dass sie uns unheimlich viel aus ihren Erfahrungsschatz geben können. Sie können uns Zeit schenken.

Ellmenreich: Aber wenn Sie jetzt ein Dorf aufbauen, woher kommen die Menschen dann?

Fahrer: Aus ganz verschiedenen Himmelsrichtungen zusammengeweht.

Ellmenreich: Das sind also Menschen, die einander getroffen haben, die Sie kennen, die freiwillig gerne miteinander leben möchten?

Fahrer: Ja, und das ist wirklich im Aufbau. In der ersten Phase haben wir dieses kleine Schloss, das wir bewohnen, und planen jetzt langsam die Neubauten, wo dann eben auch kleine Wohnungen zum Teil entstehen, wo ältere Menschen bis zum Tode bleiben können, wenn sie da bleiben wollen.

Ellmenreich: Wie reagieren Freunde, Bekannte von Ihnen, die Sie darauf ansprechen? Wie groß ist die Resonanz?

Fahrer: Sehr groß, weil ich denke, es ist wirklich ein Riesenthema, dass man sich bewusst wird, erstens werde ich auch alt, das ist eine Randgruppe, die Alten, aber wir gehören alle zu dieser Randgruppe, schneller als uns lieb sind. Unsere Jahrgänge, wenn wir mal alt sind, sind wir noch viel mehr alte Menschen.

Ellmenreich: Wie wollen Sie sich um die alten Menschen kümmern? Jeder von uns muss trotz allem in einem bestimmten Alter Geld verdienen und hat vielleicht nicht die Zeit, die Kraft, vielleicht auch nicht die Fähigkeiten, sich um alte Menschen ausgiebig zu kümmern.

Fahrer: Da muss man natürlich genau sein. Auf unserem Platz - das ist jetzt schon klar - wohnt eine Krankenschwester. Wir kooperieren mit bestehenden Institutionen, weil selber eine Institution sein zu wollen, ist in einem Land wie der Schweiz fatal, weil dann das Bett wieder 300 Franken am Tag kostet. Also wir kooperieren dann mit Pflegeinstitutionen. Wir haben das Glück, dass unsere Nachbarn und Verkäufer dieses Platzes ein Gesundheitszentrum von Alternativärzten ist.

Ellmenreich: Ich danke ganz herzlich für den Besuch im Studio.