"Kinder sind das beste Publikum der Welt"

Moderator: Rainer Pöllmann · 19.07.2005
Gerd Albrecht war einst der jüngste Generalmusikdirektor Deutschlands in Lübeck. Weitere Stationen in leitenden Funktionen waren unter anderen Berlin, Zürich, Hamburg und Prag. Einen Namen machte er sich auch mit musikpädagogischer Arbeit zum Beispiel mit dem Bundesjugendorchester und seinem klingenden Museum. Zu seinem heutigen 70. Geburtstag interviewte ihn Rainer Pöllmann.
Pöllmann: Das Programm, das Sie an Ihrem 70. Geburtstag dirigieren, besteht aus Bernd Franke, einem zeitgenössischen Komponisten, Ludwig van Beethoven, Karl Amadeus Hartmann, einem von den Nazis in die innere Immigration getriebenen Komponisten, und aus einer Symphonie von Gustav Mahler. Das ist ein Programm, das eigentlich wie auf Sie zugeschnitten ist, ein richtiges Geburtstagsprogramm für Gerd Albrecht, weil es alle Sparten abdeckt, für die er steht.

Albrecht: Das ist so, ja. Diese Arbeitsphase, die das Bundesjugendorchester macht, geht ja nach Japan, das Bundesjugendorchester als Repräsentant Deutschlands im deutschen Jahr in Japan. Es gibt tausende von Jugendorchestern überall in der Welt, das ist ja schon fast wie eine Virusgrippe, aber es gibt nur ein Bundesjugendorchester auf einer Nation ruhend, die jetzt 80 Millionen Menschen umfasst, eine Kulturnation und die Elite spielt in diesem Orchester und wir haben in dieser Phase jetzt wirklich 16 bis 19 und nicht älter.

Pöllmann: Sie haben gerade von einer Virusgrippe der Jugendorchester gesprochen. Das ist insofern erstaunlich, als Sie selbst sich der Jugendarbeit über Jahrzehnte hinweg immer sehr gewidmet haben, dem Nachwuchs, den Kindern und Jugendlichen auch Musik bei- und nahe bringen wollten. Worin besteht die Virusgrippe jetzt?

Albrecht: Ich meine nur den Ansteckungseffekt als Metapher, nicht.

Pöllmann: Also eigentlich etwas Positives.

Albrecht: Natürlich! Es soll hunderttausende von Jugendorchestern geben, ich habe den Vergleich nur genommen, weil eben eine Virusgrippe sich so schnell fortpflanzt. Gott sei Dank, pflanzt sie sich fort.

Pöllmann: Sie haben die Hamburger Jugendmusikstiftung gegründet, haben klingende Museen eingerichtet in Hamburg und Berlin und es soll auch in einigen anderen Städten folgen. Warum ist diese Arbeit für Sie persönlich so wichtig, was bringt sie Ihnen persönlich über das gesellschaftspolitische Engagement hinaus?

Albrecht: Kinder oder Jugendliche sind das beste Publikum der Welt, denn sie sind noch unverdorben und die reagieren auf Interpretationen ganz natürlich. Und das ist für mich eine unglaubliche Bereicherung. So, wie ich oft gefragt worden bin: Mit welchem Orchester haben Sie denn am allerliebsten zusammengearbeitet? Mit dem Bundesjugendorchester! Sie glauben gar nicht, wie fantastisch diese jungen Musiker sind. Das ist als ob Sie von Vitaminsprudel umgeben sind.

Das ist der eine persönliche Teil und der andere musikpolitische Teil ist der: die Kraft der Familie, die im 18., 19., auch noch im 20. Jahrhundert die adeligen, dann die bürgerliche Familie, die Musik noch zu Hause getragen hat, ist gebrochen. Die Schule hat es nie gekonnt, die hat sich darum gemüht, es aber nie gebracht. Und so sage ich, ohne Kassandra spielen zu wollen: Wenn nicht etwas Grundlegendes geschieht, werden wir in 30 Jahren das von der Welt beneidete Musikleben in Deutschland nicht mehr haben.

Wir, das heißt, die Interpreten haben, so spüre ich es, die Verpflichtung, dafür etwas zu tun. Aus diesem Grund kam das mit dem klingenden Museum in Hamburg, seit drei Jahren in Berlin, ich mache es jetzt in Tokio, wenn ich mit dem Bundesjugendorchester dort bin, mit meinem Orchester dort, und es sieht sehr realistisch und gut für München und Prag aus. Je mehr man schafft, desto besser ist es.

Ich habe in meiner Hamburger Zeit gesagt, wenn mir Bill Gates 500 Millionen Dollar gibt oder auch nur 5 Millionen Dollar, dann führe ich statt 5000 Kindern im Jahr 50.000 Kinder an die Musik heran. Und das wäre natürlich besser.

Pöllmann: Es braucht allerdings nicht nur Geld, sondern auch eine pädagogische Begabung, wie Sie das über Jahrzehnte auch in Ihren Gesprächskonzerten gemacht haben, die sich nicht speziell an Kinder wenden, aber versuchen, die neue Musik und damit ja auch ein schwieriges sperriges Feld dem Publikum nahe zu bringen. Reizt Sie eigentlich immer diese Herausforderung des Neuen, Unbekannten, Schwierigen, langweilt es Sie, das Standardrepertoire ins Zentrum Ihres Schaffens zu stellen, würde es Sie langweilen, wenn Sie es täten?

Albrecht: Wenn Sie sehen, was ich dirigiere oder was ich in den letzten 15 Jahren dirigiert habe, dann werden Sie sehen, dass das Standardrepertoire das Zentrum meiner Arbeit ist. Nur Aufsehen erregen diese besonderen Dinge. Wenn man irgendwo eine Tschaikowsky- oder Beethoven-Symphonie spielt, und man spielt sie nicht auf den verrücktesten Instrumenten, dann wird das einfach registriert. Aber wenn Sie einen unbekannten Janacek oder Dvorak aus der Taufe heben, lauscht natürlich die ganze Fachwelt und schreibt darüber.

Pöllmann: Sie haben mit ihren Entdeckungen, vor allem auch den Wiederentdeckungen von verfemten Komponisten, von Komponisten, die von den Nazis verfolgt, ins Exil getrieben oder aber ermordet wurden, sehr großen Erfolg in dem Sinne gehabt, dass viele dieser Werke tatsächlich ins Repertoire Eingang gefunden haben und nicht in der Spezialistenecke geblieben sind. Sehen Sie denn weitere Felder, die dermaßen unbeackert sind, wie es eben die klassische Moderne vor 20, 30 Jahren war, wo Sie sich schatzgräberisch reingearbeitet haben?

Albrecht: Es ist sehr schwer zu sagen. Ich habe vor sechs Wochen "König und Köhler" von Dvorak für Schallplatte gemacht. Wenn ich Prager Dvorak-Spezialisten frage, sagen sie: Ja, wir wissen, aber diese Oper haben wir nie gehört. Man muss nicht aus Neugierde sagen, ich mache das jetzt, weil das ganz unbekannt ist, sondern man muss gleichzeitig sagen, ich mache es, weil ich zu der Qualität dieser Musik stehe.

Zum Beispiel haben Sie angesprochen die von den Nazis verfolgten, umgebrachten, also die Theresienstädter Komponisten. Als ich sie '93 in Prag gegen den Widerstand der vielen Antisemiten, die es immer noch in Prag gibt wie in Wien, gemacht habe, hat man mich oft gefragt, in Italien auch: "Sind Sie Jude?" Ich habe gesagt: "Nein". Ja, warum tun Sie es? Und ich habe gesagt: "In erster Linie, weil diese Musik qualitätvoll ist und weil sie in unser Bewusstsein hineingehört". In zweiter Linie kommt erst dieses Schuldgefühl, was die Deutschen angerichtet haben.

Pöllmann: Sie waren immer einer der Ersten und Jüngsten, die internationale Karriere begann mit Anfang 20, mit 27 waren Sie jüngster Generalmusikdirektor des Landes, heute, ein halbes Jahrhundert später wenn Sie zurückblicken, würden Sie manchmal auch sagen, es war zu schnell?

Albrecht: Ich will mal so sagen: zum Beispiel Lübeck, dass ich GMD geworden bin, das war früh, aber nicht zu schnell. Nur, nach einem Jahr ging der Intendant und die Stadt fand: Albrecht, machen Sie das doch mit. Dann ist man mit 28 Jahren nicht nur Generalmusikdirektor, sondern auch noch Intendant mit einer zugegebenen nicht riesigen, aber immerhin einer Oper. Solche Schritte sind zu schnell. Nur wenn Sie so fragen, wenn man zurückblickt – Alter kommt schnell und stellt sich ganz von selbst ein. Reife muss man für sich jeden Tag wieder erkämpfen.