Games und Social Media

Ist mein Kind schon mediensüchtig?

Ein Junge liegt auf einer Bank und sucht auf seinem Handy etwas im Internet.
Wie lange darf mein Kind am Handy spielen - und ab wann wird es ungesund? Für viele Eltern ist das schwer zu entscheiden. © picture alliance / dpa / Annette Riedl
29.05.2023
Kinder und Jugendliche daddeln stundenlang in sozialen Netzwerken oder spielen Computerspiele. Laut einer Studie hat sich die krankhafte Mediennutzung seit Corona verdoppelt. Wann spricht man von Mediensucht – und was lässt sich dagegen tun?
Kinder und Jugendliche in Deutschland verbringen immer mehr Zeit in der virtuellen Welt – in sozialen Netzwerken, beim Streamen oder Computerspielen. Das kann zur Abhängigkeit führen. Einer Studie der Krankenkasse DAK und des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf zufolge sind rund 1,6 Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland akut gefährdet, mediensüchtig zu werden, über 600.000 sind bereits abhängig.
Für die Studie wurde eine repräsentative Gruppe von zehn- bis 21-Jährigen aus rund 1200 Familien zu ihrem Umgang mit digitalen Medien befragt, von 2019 bis 2022.

Warum hat Mediensucht unter Kindern und Jugendlichen zugenommen?

Die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die ein pathologisches - also krankhaftes - Mediennutzungsverhalten aufweisen, hat sich während der Coronapandemie mehr als verdoppelt, heißt es in der Untersuchung der Krankenkasse DAK und des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf.
 „Wir haben gesehen, dass während des ersten Lockdowns das Nutzungsverhalten bei Kindern und Jugendlichen zunächst eskalierte, sich dann in den Folgejahren etwas zurückbildete", sagt Rainer Thomasius, der die Studie geleitet hat. "Und jetzt machen wir die erschreckende Feststellung, dass bei den sozialen Medien die Nutzungszeiten jüngst nochmal wieder signifikant angestiegen sind." Die Covid-19-Pandemie habe unseren Umgang mit digitalen Medien also nachhaltig verändert.
Der Anteil der Minderjährigen, die Suchtverhalten bei der Nutzung von Social Media aufweisen, stieg laut der Studie seit 2019 von 3,2 auf 6,7 Prozent. Bei der Nutzung von Computerspielen nahm die Quote von 2,7 Prozent auf 6,3 Prozent zu. „Zuletzt lagen die Nutzungszeiten für die Computerspiele bei zwei Stunden an den Werktagen, drei Stunden am Wochenende, und bei den sozialen Medien bei drei Stunden am Werktag und vier Stunden an den Wochenenden, und Streaming liegt zuletzt bei 2,5 Stunden“, so Thomasius.

Wie werden Kinder mediensüchtig?

Beratungsstellen sprechen von einem „Suchtstrudel“, in den manche Menschen hineingezogen werden: einer Abwärtsspirale, die im Kontrollverlust endet. Es beginnt mit angenehmen oder aufregenden Erfahrungen – viele Likes bei Social Media oder Erfolg beim Computerspiel. Unangenehme Gefühle, Sorgen und Probleme rücken dadurch erst einmal in den Hintergrund. Deswegen verbringen die Kinder und Jugendlichen noch mehr Zeit mit Games und im Internet. Das führt allerdings dazu, dass sie wichtige Aufgaben wie Hausaufgaben noch stärker vernachlässigen. Vor diesen Problemen flüchten sie wiederum in die digitalen Welten.

Wer ist von Mediensucht besonders betroffen?

In der Studie der Universitätsklinik Hamburg und DAK haben die Kinder und Jugendlichen angegeben, das Internet während der Coronapandemie genutzt zu haben, um Langeweile abzubauen, soziale Kontakte zu pflegen und sich zu informieren. „Das erklärt aber nicht, weswegen Kinder und Jugendliche abhängig werden“, sagt Rainer Thomasius, Ärztlicher Leiter am Deutschen Zentrum für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.
„Hier muss man viel mehr personennahe und familiäre Gründe als Ursachenbündel mit einbeziehen. Es geht um Jugendliche, die besonders ängstlich und selbst unsicher sind, eine geringe Stressempfindlichkeit aufweisen, die in Familien aufwachsen, wo wenig Fürsorge und Anleitung zu einem angemessenen Internetgebrauch stattfindet, wo negative Rollenvorbilder vorhanden sind und wo möglicherweise auch bereits Defizite in der Entwicklung entstehen.“ Die digitalen Medien würden dazu dienen, Gefühle von Einsamkeit, sozialer Isolation und Kontrollverlust, aber auch Stress und andere negative Gefühle zu kompensieren.
Beim Computerspielen sind Jungen stärker betroffen als Mädchen. Bei den sozialen Medien und beim Streaming liegen beide Geschlechter gleich auf. Außerdem sei der Bildungskontext entscheidend, sagt Thomasius. „Insofern als die aus ungünstigen Bildungskontexten stammenden Jugendlichen höhere Nutzungszeiten aufweisen, aber auch verstärkt in diese pathologischen Verhaltensmuster hineingeraten können.“

Wie äußert sich Mediensucht?

Die Gaming-, Social Media- und Streaming-Sucht werden als verwandte, aber unterschiedliche Störungsbilder betrachtet. Um sie genau zu definieren, zieht man die Kriterien der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und ihre internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-11) heran. Von einer pathologischen Nutzung spricht man bei folgendem Verhalten:

  • Kontrollverlust in Bezug auf Beginn, Frequenz, Intensität, Dauer, Beendigung oder Kontext des Spielens
  • zunehmende Priorisierung gegenüber anderen Lebensinhalten und Alltagsaktivitäten
  • eine Fortsetzung des Verhaltens trotz negativer Konsequenzen

Diese Art der Nutzung muss durchgehend oder episodisch mindestens über einen Zeitraum von einem Jahr erfolgen. Einmal ein Spiel, das gerade neu herausgekommen ist, an mehreren Tagen hintereinander durchspielen, genügt also nicht.
Das pathologische Verhalten resultiert in einer signifikanten Störung wichtiger Funktionsbereiche wie der Familie, dem persönlichen und sozialen Umfeld, der Ausbildung oder dem Beruf.

Was können Eltern gegen Mediensucht tun?

Es sei ausgesprochen wichtig, dass Eltern ihre Kinder beim Internet- und Mediengebrauch anleiten, sagt Rainer Thomasius vom Deutschen Zentrum für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters. Dafür müssen die Eltern über das Suchtpotenzial und die Alterskennzeichnung der Formate informiert sein. „Sie sollten Interesse an den Spielvorlieben zeigen und Grenzen setzen. Das ist ein nicht ganz einfacher Prozess für die Familien, der Auseinandersetzungen bedeuten kann. Es ist aber wichtig, hier altersgerechte Vorgaben und Grenzen zu definieren.“
Ausreichend Medienkompetenz und Wissen über die Spiele und Plattformen ist also eine wichtige Voraussetzung, um die Kinder kompetent begleiten zu können. Das bestätigt auch Thomas-Gabriel Rüdiger, Leiter des Instituts für Cyberkriminologie an der Polizeihochschule des Landes Brandenburg. „Es ist nun einmal die Realität mit der digitalen Welt, also müssen wir sie begleiten und halt nicht verbieten. Und dazu gehört: Wenn dein Kind ein Onlinespiel installieren würde, dann musst du das Spiel halt selber erst einmal zocken, zwei Wochen lang, jeden Tag eine halbe Stunde, um zu gucken, was dabei passiert, auch um authentisch mit deinem Kind zu reden.“
Außerdem ein wichtiger Schritt aus der Mediensucht: Alternativen für eine analoge Freizeitgestaltung und aktive Stressbewältigung anbieten – und ein gutes Vorbild in Bezug auf die Mediennutzung sein. Wer selbst ständig zum Smartphone greift, kann dies seinen Kindern kaum vorwerfen. Und: Die Eltern, so Thomasius, sollten gemeinsam mit den Kindern medienfreie Zeiten definieren.
Silke Müller, Leiterin einer Oberschule in Niedersachen und erste Digitalbotschafterin in Niedersachen, rät diesbezüglich generell: Sobald ein Kind sein erstes Smartphone bekommt, sollen Regeln für die Nutzung festgelegt werden. Solche Vorgaben sind auch in Hinblick auf drohende Gefahren für Minderjährige im Netz wichtig, wie beispielsweise Cybermobbing und Cybergrooming, pornografische oder gewaltverherrlichende Inhalte. „Das Netz wurde von Erwachsenen für Erwachsene geschaffen, und die Schutzfunktionen für Kinder haben eigentlich keine große Rolle gespielt“, betont Rüdiger diesbezüglich.
Sollten Kinder und Jugendliche bereits ein pathologisches Verhalten bezüglich ihrer Mediennutzung zeigen, können Beratungsstellen weiterhelfen.

Was können Kinder selbst gegen Mediensucht tun?

In einer vom Deutschen Zentrum für Suchtfragen des Kindes und Jugendalters (DZSKJ) herausgegebenen Broschüre für Kinder und Jugendliche ab zehn Jahren wird den Betroffenen gezeigt, wie die sie Kontrolle über ihren Medienkonsum zurückgewinnen können.
Dabei listet sie vier Schritte auf:
Zum einen sollen die Kinder oder Jugendlichen sich eine Vertrauensperson suchen, mit der sie gemeinsame Ziele und medienfreie Zeiten vereinbaren, die sie motiviert und der notfalls auch die Administrationsrechte über die Geräte übertragen werden können.
Im zweiten Schritt wird den Betroffenen geraten, ihren Medienkonsum in einer Tabelle zu dokumentieren, um selbst einen Überblick zu gewinnen.
Als Drittes ist es wichtig, einen passenden Platz beispielsweise für den PC, das Fernsehgerät oder die Konsole zu finden: Diese sollten möglichst in einem Raum stehen, der auch von anderen Familienmitgliedern genutzt wird. Das Smartphone sollte nicht immer griffbereit in der Jacken- oder Hosentasche verstaut werden.
Der vierte Schritt: Spaß jenseits der digitalen Welt haben, sich mit Freunden treffen, Sport oder Musik machen.

Lennart Pyritz, Leila Knüppel, mediensuchthilfe.info, Längsschnittstudie der DAK-Gesundheit und des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE), dpa
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