Kinder in einer kranken Gesellschaft
Immer mehr Kinder und Jugendliche werden in eine Therapie geschickt, sei es wegen Lernschwächen, Schlafstörungen, Gewalt oder wegen einer sogenannten Aufmerksamkeitsstörung. Miguel Benasayag und Gérard Schmit stellen in ihrem Buch "Die verweigerte Zukunft" die These auf, dass nicht die Kinder krank sind, sondern die Gesellschaft, die ihnen eine Therapie verordnet.
Da ist der zehnjährige Marc. Er weigert sich, sich nackt auszuziehen und sich vor anderen zu waschen. Auch zuhause geht er nur mit einer Art dünnem Overall bekleidet unter die Dusche. Doch was sich komisch angehört, hat für Marc einen logischen Grund. Seiner Auffassung nach ist er der Kaiser eines fremden Planeten. Und für einen Kaiser ziemt es sich eben nicht, sich anderen nackt zu zeigen.
Der Junge, so stellte sich im Verlauf der Therapie heraus, ist keineswegs verrückt, sondern mathematisch hoch begabt. Dank dieser Begabung ist er überhaupt erst in der Lage, sich eine gründlich durchdachte Welt eines fremden Planeten auszudenken. Marc war eben einfach nur "anders" als die Norm. Das ist für viele Menschen beziehungsweise Eltern schwer erträglich. Schnell reduzieren sie Kinder wie Marc deshalb auf ihre Symptome, die sie weg behandelt haben wollen. Im Interesse des Kindes natürlich, schließlich soll es in dieser Welt funktionieren. Und genau damit sind wir beim Grundgedanken dieses kleinen, schlauen Buches.
Denn die überzeugende These von Benasayag und Schmit ist so einfach wie provokant: nicht die Kinder sind krank, sondern die Gesellschaft. Geprägt von Arbeitslosigkeit, Klimakatastrophe und Krankheiten wie AIDS, Krebs und Vogelgrippe haben wir den Glauben an die Zukunft verloren. Die Zukunft, das vermitteln wir unseren Kindern ständig, ist etwas bedrohliches, dem wir fast schon hilflos gegenüber stehen. Zu groß, zu unlösbar die Probleme. Menschen werden in dieser Zukunftsvision nicht mehr aufgrund ihrer vielschichtigen Persönlichkeit wahrgenommen und geschätzt, sondern einzig an ihrer Nützlich- und Leistungsfähigkeit gemessen. Kein Wunder also, dass Kinder mit scheinbaren Störungen reagieren.
Auch die Erziehung selbst ist in die Krise geraten, schreiben Miguel Benasayag und Gérard Schmit. Sie passt nicht mehr in die sich grundlegend gewandelte Welt. Warum soll man Kinder motivieren, sich lustvoll und neugierig auf die Zukunft zu freuen, wenn sie doch erleben müssen, dass die Eltern dies selbst nicht tun. Warum sollen sie trotz der offensichtlichen Sinnlosigkeit dieser Zukunft lernen? Wozu sich anstrengen? Alles, so die Autoren, was Kindern heute vermittelt wird, ist, dass nur der glücklich ist, der Geld hat, der sich nichts sagen lässt, der sein eigener Chef ist. Persönliche Bindungen bleiben dabei auf der Strecke.
Und genau hier setzten die Autoren an: Da wir mitten im gesellschaftlichen Umbruch, in einer von Angst geprägten Zeit leben, muss gute Erziehung Kinder und Jugendliche stark machen im Umgang mit anderen Menschen. Denn erst zwischenmenschlich starke Bindungen geben genügend Kraft, sich den Herausforderungen dieser ungewissen Zukunft zu stellen. Miguel Benasayag und Gérard Schmit sprechen in diesem Zusammenhang von Wahlverwandtschaft, ein schönes Bild, dem der Leser gut folgen kann und das zeigt: Nur zusammen sind wir stark!
In ihrer Praxis arbeiten die beiden Psychoanalytiker täglich mit Kindern und Jugendlichen, die aufgrund ihrer Symptome in Behandlung geschickt werden. Hierin sehen die Autoren die große Gefahr einer Medizin, die für jedes Symptom sofort das entsprechende Medikament bereit hält und gar nicht mehr den Patienten als Ganzes wahrnimmt.
Als Beispiel führen die Autoren hier Ritalin an. Das Medikament sollte Kindern vorbehalten sein, die unter einem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom leiden oder die hyperaktiv sind. Da es aber den Ruf eines "Bravmacher" hat, wird es mittlerweile Millionen von Kindern verschrieben, deren Anpassungsschwierigkeiten auf ganz andere Ursachen zurück gehen.
Rezensiert von Kim Kindermann
Miguel Benasayag/Gérard Schmit: Die verweigerte Zukunft. Nicht die Kinder sind krank, sondern die Gesellschaft, die sie in Therapie schickt
Aus dem Französischen von Karola Bartsch
Kunstmann Verlag
162 Seiten, 16,90 Euro
Der Junge, so stellte sich im Verlauf der Therapie heraus, ist keineswegs verrückt, sondern mathematisch hoch begabt. Dank dieser Begabung ist er überhaupt erst in der Lage, sich eine gründlich durchdachte Welt eines fremden Planeten auszudenken. Marc war eben einfach nur "anders" als die Norm. Das ist für viele Menschen beziehungsweise Eltern schwer erträglich. Schnell reduzieren sie Kinder wie Marc deshalb auf ihre Symptome, die sie weg behandelt haben wollen. Im Interesse des Kindes natürlich, schließlich soll es in dieser Welt funktionieren. Und genau damit sind wir beim Grundgedanken dieses kleinen, schlauen Buches.
Denn die überzeugende These von Benasayag und Schmit ist so einfach wie provokant: nicht die Kinder sind krank, sondern die Gesellschaft. Geprägt von Arbeitslosigkeit, Klimakatastrophe und Krankheiten wie AIDS, Krebs und Vogelgrippe haben wir den Glauben an die Zukunft verloren. Die Zukunft, das vermitteln wir unseren Kindern ständig, ist etwas bedrohliches, dem wir fast schon hilflos gegenüber stehen. Zu groß, zu unlösbar die Probleme. Menschen werden in dieser Zukunftsvision nicht mehr aufgrund ihrer vielschichtigen Persönlichkeit wahrgenommen und geschätzt, sondern einzig an ihrer Nützlich- und Leistungsfähigkeit gemessen. Kein Wunder also, dass Kinder mit scheinbaren Störungen reagieren.
Auch die Erziehung selbst ist in die Krise geraten, schreiben Miguel Benasayag und Gérard Schmit. Sie passt nicht mehr in die sich grundlegend gewandelte Welt. Warum soll man Kinder motivieren, sich lustvoll und neugierig auf die Zukunft zu freuen, wenn sie doch erleben müssen, dass die Eltern dies selbst nicht tun. Warum sollen sie trotz der offensichtlichen Sinnlosigkeit dieser Zukunft lernen? Wozu sich anstrengen? Alles, so die Autoren, was Kindern heute vermittelt wird, ist, dass nur der glücklich ist, der Geld hat, der sich nichts sagen lässt, der sein eigener Chef ist. Persönliche Bindungen bleiben dabei auf der Strecke.
Und genau hier setzten die Autoren an: Da wir mitten im gesellschaftlichen Umbruch, in einer von Angst geprägten Zeit leben, muss gute Erziehung Kinder und Jugendliche stark machen im Umgang mit anderen Menschen. Denn erst zwischenmenschlich starke Bindungen geben genügend Kraft, sich den Herausforderungen dieser ungewissen Zukunft zu stellen. Miguel Benasayag und Gérard Schmit sprechen in diesem Zusammenhang von Wahlverwandtschaft, ein schönes Bild, dem der Leser gut folgen kann und das zeigt: Nur zusammen sind wir stark!
In ihrer Praxis arbeiten die beiden Psychoanalytiker täglich mit Kindern und Jugendlichen, die aufgrund ihrer Symptome in Behandlung geschickt werden. Hierin sehen die Autoren die große Gefahr einer Medizin, die für jedes Symptom sofort das entsprechende Medikament bereit hält und gar nicht mehr den Patienten als Ganzes wahrnimmt.
Als Beispiel führen die Autoren hier Ritalin an. Das Medikament sollte Kindern vorbehalten sein, die unter einem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom leiden oder die hyperaktiv sind. Da es aber den Ruf eines "Bravmacher" hat, wird es mittlerweile Millionen von Kindern verschrieben, deren Anpassungsschwierigkeiten auf ganz andere Ursachen zurück gehen.
Rezensiert von Kim Kindermann
Miguel Benasayag/Gérard Schmit: Die verweigerte Zukunft. Nicht die Kinder sind krank, sondern die Gesellschaft, die sie in Therapie schickt
Aus dem Französischen von Karola Bartsch
Kunstmann Verlag
162 Seiten, 16,90 Euro