Kiezkultur

Liebhaber der alten Leier

Von Ulrike Hempel · 20.12.2013
Was ist der Unterschied zwischen der Drehorgel und einem Leierkasten? „Uffn Leierkasten legt man eenen Sechser oder Groschen, uff ne Drehorgel legt man 10 Pfennige“, sagt einer von denen, die hinter dem Kasten stehen. Auch sonst haben Berliner Leierkastenspieler einiges zu erzählen.
"So und jetzt kommt die Berliner Luft in drei Strophen. Berlin hör ick den Namen nur, fängt det Ding an, aber den Text hab ick da unten irgendwo."
Immer donnerstags steht der Altberliner Leierkastenmann an der S- und U-Bahn Schönhauser Allee. In schwarzem Anzug, mit Hut, weißem Hemd und buntgepunkteter Krawatte. Von 11.00 bis 17.00 Uhr dreht er die Kurbel, seit über 9 Jahren. Er heißt Horst Bölsdorf, die Leute nennen ihn Rübezahl. Früher war er Elektroingenieur, heute ist er Rentner. Ungefähr 10 Euro verdient er im Schnitt mit dem Drehorgeln, mal mehr, mal weniger.
"Aber von meiner Rente kann ick och nich leben. Ick krieg bisschen über 600, also 620 und davon jeht det nich. Ja, andere jehn arbeiten und da müssen Se eben sajen, okay, ick spiel jetzt eben meine Zeit und, und sonst passiert nüscht. Von nüscht wird nüscht. Da ick ja mehrere Stunden hintereinander spiele, kann man ja nur besessen von so wat sein. Und Besessene, nee, die spieln wahrscheinlich, weeß ich, bis kurz bevor se ins Grab jehn."
"Is'n Tauschprogramm da unten. Die Kinder werfen uff der einen Seite wat rinn und uff der anderen können sie sich wat rausnehmen. Entweder paar Lollis oder paar Bonbons, Kaubonbons, je nachdem. Und wenns'e so kommen und ham jarnüscht, und fragen, kann ick mir wat nehmen? Sag ick, da fehlt noch'n Wort, dann fällt ihnen meistens 'Bitte' ein und wenn das 'Bitte' ihnen och nich einfällt, dann sag ick, da jibt´s ein Zauberwort. Und wenn se dann sagen, darf ich mir bitte, dann können se sich och so wat nehmen."
"Ich hab ja beim Verkehrsamt dann aufgehört, 1985 und habe gesagt, nee, Kinder, jetzt ist Schluss, ich wird jetzt Leierkastenfrau. Das war für meine Eltern ganz furchtbar. Mein Vater hat zwei Jahre lang nicht mit mir gesprochen. Ist dann aber ganz krass umgeschlagen, als ich mit dem Regierenden Bürgermeister, damals noch Eberhard Diepgen, in Hamburg war, auf einer großen Messe, in der Tagesschau zu sehen war.
Das war ein Wandel wie Tag und Nacht. Er sagte dann mit einem Mal, das ist meine Tochter, kennen Sie die Jubel-Jette? Und von da an wollte er dann auch spielen, dann ist er sogar im Kostüm mitgekommen und hat gespielt und hat den Leuten die Orgel erklärt. Aber der erste Moment war schlimm. Meine Tochter geht auf die Straße betteln. So war der erste Eindruck.“
Auch bei Christa Hohnhäuser alias Jubel-Jette reichen die Einnahmen vom Orgeln auf der Straße nicht aus. Deshalb spielt sie auch auf Geburtstagen, Geschäftseröffnungen und – auf Wunsch – bei Beerdigungen.
"Also leben davon kann man nicht. Es gibt Tage, wenn die Kollegen auf der Straße spielen, die gehen vielleicht mal mit 2 Euro nach Hause, denn mit 20. Sie können vielleicht och mal 100 Euro haben, dann ist es ein besonders schöner, sonniger Tag bis kurz nach Ultimo gewesen. Das kommt vor, aber ganz selten. Also, leben davon? Nee, da müsste ich wirklich jeden Tag raus."
Jubel-Jette ist Vizepräsidentin der Internationalen Drehorgelfreunde Berlin. Der Verein hat etwa 250 Mitglieder. Und keiner besitzt eine Drehorgel mit Computersteuerung. Nein, die bekennenden Freunde der Drehorgelmusik orgeln traditionell und wie es sich gehört mit Walzen- und Lochbandsteuerung.
"Es gibt auch heutzutage natürlich eine elektronische Orgel, die ist aber bei uns in unserem Verein und auch zu unserem Drehorgelfest nicht erwünscht, weil wir wollen einfach die Altberliner Bauart erhalten. Nich, es gibt viele, die sagen, mensch, dann kann ich ja jenauso jut mit nem Kassettenrekorder da stehn."
Betrüger legen einen CD-Player in den Kasten
CD-Player oder Recorder in ausgeschlachteten Drehorgeln verstecken, nur auf einen Schalter drücken und dann die Kurbel eines ausrangierten Fleischwolfs drehen – das ist für traditionsbewusste Orgler Betrug. Denn Berlin hat eine lange Drehorgel-Tradition, erzählt Kunst- und Gestaltungstherapeut Jörg Frey:
"Es gab ja mehrere Leierkastenzentren in Deutschland. So die große Zeit des Leierkastens war nach 1870. Aber eines war eben Berlin. Es gab mehrere Werkstätten hier und die berühmteste war die von Bacigalupo in der Schönhauser Allee, wo ja jetzt vor kurzem gerade auch so ne Gedenktafel angebracht wurde, vorne am Center. Also, Bacigalupo war ein italienischer Einwanderer und die haben dann über drei Generationen da gebaut. Das war eine Arbeit auf ganz hohem Niveau, handwerklich und natürlich auch musikalisch. Und insofern war Berlin eine Hochburg des Leierkastenbaus, auf jeden Fall, die waren in ganz Europa berühmt die Kästen und in Berlin waren 3000 Leute unterwegs mit dem Leierkasten. Also, das klimperte ja an jeder Ecke. Das war schon um die Jahrhundertwende ein typisches Stück Berlin."
"Das ist die Musik, die hier her gehört. Die einen kommen ran und sagen: Ach, is det schön, dit is wieda die jute alte Zeit. Und nem andern fällt dann ein: Ja, ja, bei meina Oma, noch uffn Hinterhof, als kleener Piefke bin ick runterjerannt, hab det Geld einjesammelt und habs ordentlich dem Leierkastenmann wieder uff die Orgel jelegt. Es gibt viele, viele ältere Menschen, die sich daran noch erinnern können."
"Bloß wir Leierkastenleute ziehen nicht mehr über de Hinterhöfe, weil die meisten sind verschlossen und wennse dort schon mal spielen, kanns passieren, dass det Fenster uff jeht und jerufen wird: Hörn Se uff mit dem Krach. Hats schon jejeben."
"Ja, man spricht immer vom Leierkastenmann, aber wenn sie mal in alten Büchern stöbern, dann sehen sie auch oft Frauen daneben stehen. Auch so in alten Mänteln und richtig schönen alten Klamotten, die mir heute immer fehlen bei der Kostümierung. Also, es waren schon auch Frauen dabei, aber überwiegend war es schon der Leierkastenmann.
Is ja so gewesen, dass Kriegsversehrte nach Hause kamen, keine Arbeit mehr hatten und die konnten sich dann für 4,50 Mark nen Leierkasten leihen, haben den nen ganzen Tag gehabt und konnten froh sein, wenn sie dann etwas mehr als 4,50 Mark eingenommen haben."
Heute muss man sich eine Drehorgel inklusive der dazugehörenden Musikrollen nicht gleich kaufen. Ausleihen geht auch. Die Miete für 24 Stunden kostet 60 Euro, für ein Wochenende von Freitag bis Montag 90 Euro. Verleih, Kauf und Reparaturen alter Drehorgeln – dafür gibt es nur eine richtige Adresse: Mit Berlin verbindet die Drehorgelszene den Namen Stüber.
Orgelbaumeister Axel Stüber. Er hat seine Manufaktur in Biesdorf. Seit über 35 Jahre ist er dabei. Anfangs wurden Kirchenorgeln repariert und restauriert. Heute werden in der Manufaktur bis zu 50 Drehorgeln gebaut, pro Jahr und vom Drei-Mann-Team. Wohin gehen die Stüber-Drehorgeln?
"Rund um die Erde. Als Ostdeutscher führt man besonders gern Statistik darüber und da bin ich jetzt beim 36 Land angekommen. Ende vergangenen Jahres kam Israel dazu, worauf ich besonders stolz bin. Ja und dann die Schweiz, die Staaten, Kanada, Mexiko und wo es auch immer hingehen soll, Australien. Sind alles keine riesen Stückzahlen, es sind immer Einzelinstrumente, die man im Laufe der Jahre exportiert hat.“
In Deutschland gibt es etwa 250 Orgelbaubetriebe. Fünf davon bauen Drehorgeln. Was ist das Besondere an den Stüber- Leierkästen?
"Wir haben uns der traditionellen Berliner Bauweise verschrieben und versuchen, den typischen Berliner Sound in unseren Instrumenten aufzunehmen. Na ja, Berlin ist eine laute Stadt und war schon immer eine laute Stadt und von daher musste die Berliner Drehorgel lauter sein als die, die in Süddeutschland hergestellt wurden."
Den Leierkasten mit der eigenen Stimme übertönen, davon kann die Jubel-Jette ein Lied singen. Schüchtern ist die geborene Spandauerin garantiert nicht. Doch das Lautstarke ist eine Mutprobe, immer wieder auf´s Neue.
"Man hat Hemmungen, das ist schon klar. Wenn ich zu meinem lauten Leierkasten singen will, dann muss ich sehr laut schreien. Und ich schreie wirklich, aber das trägt auch zur Heiterkeit des Publikums bei, darum behalt ich das bei. Also diese Hemmschwelle ist: ausladen, losgehen. Und dann heißt es einfach, fang an zu drehen. Und in dem Moment ist alles durch. Zum Beispiel bei mir ist das ganz schlimm, wenn ich bestellt werde und der Veranstalter kommt zu mir und sagt, es verzögert sich noch um eine halbe Stunde.
Diese halbe Stunde ist für mich ganz furchtbar. Ich will reinkommen und loslegen, aber warten, vor einem Auftritt warten, das ist ganz furchtbar. Da wächst das Lampenfieber. Und dann tröste ich mich immer mit Harald Juhnke, der damals ja immer vor Lampenfieber furchtbare Probleme hatte und denke, na, wenn der Mann Lampenfieber hatte, dann darf ich das auch."
Genau: Harald Juhnke, einfach loslegen und bissken Jut-Sein halten die Jubel-Jette bei der Kurbel.
Der Traum: mit der Drehorgel auf dem Festspielhügel in Bayreuth
"Also hinter der Drehorgel steh ich auf einer Bühne, auch wenn es nur ein Steinboden ist. Ich sehe ja auch immer recht lustig aus mit meinen roten Schleifen im Haar und den Stiefelchen und den Rüschenhöschen, dann kommen sie ran, sprechen einen auch richtig an und strahlen übers ganze Gesicht und das gibt einem schon so viel Freude, da hat man doch das Gefühl, etwas Gutes zu tun."
Meister Axel Stüber wedelt mit einer Skizze. Die soll Aufbau und Funktion der Drehorgel erklären. Windkammer, Überblasventil, Stimmschieber, Steckzange – bei dem Technischen pfeifft der Laie fix auf dem letzten Loch .
"Verjangnen Samstag, der kam nun nicht an, sondern rief mich verzweifelt an. Er hat sich vor acht Wochen eine Drehorgel bei mir gekauft. Und man kriegt zu einer Drehorgel, anders als bei einer Geige, eine Gebrauchsanleitung mit. Und stand also verzweifelt jetzt vor seinem Publikum. Er dreht an der Orgel und es kommt immer nur huh, huh, huh aus der Orgel raus. Mhh, haben wir gemeinsam ein paar Minuten überlegt. Habe ich gefragt, haben Sie denn eine Notenrolle in das Instrument eingelegt? Was da muss ich auch noch etwas einlegen? Ja, gut, es sind auch oft kauzige Leute, die vielleicht auch nicht zuhören, was man ihnen erzählt und dann kann einem bei einem Auftritt so was passieren. "
Einfacher als eine Drehorgel erklärt der Orgelbaumeister, warum er Drehorgelspieler und nicht berühmter Violinist wurde. Und das, obwohl er als Kind 8 Jahre lang Geigenunterricht hatte. Stüber bekennt:
"Bin dort nicht zum Virtuosen, aus welchen Gründen auch immer, geworden. Vielleicht habe ich etwas wenig geübt, aber wenn ich jetzt an einer Kirchenorgel sitze, dann begrenzt es sich eben auf wenige Akkorde, die man anschlagen kann und etwas herumstümpern kann. Und wenn ich an einer Drehorgel stehe, dann bin ich der große Virtuose, wenn ich das Notenband abrolle. Das ist schon ein Bazillus, wenn man einmal mit der mechanischen Musik so nah in Berührung kommt . Die Drehorgel ist die Prinzessin und die Königin der Instrumente ist die große Orgel."
Jörg Frey hätte in jungen Jahren gern ein Instrument erlernt, auch Notenlesen. Aber dafür hat´s nicht gereicht. Nun spielt der Kunsttherapeut eben Drehorgel. Angefangen hat es vor 10 Jahren, mit einer Leierkastenparade in Friedrichshagen am Müggelsee:
"Und das fand ich wirklich schräg. Also das ist ja so, diese alten Leierkästen aus der Jahrhundertwende, die laufen teilweise noch und wenn Sie daneben stehen und die hören, das ist Original, nicht? Das ist ja nicht mal ne Aufzeichnung, sondern so, wie diese Musik mal lief, so wie sie arrangiert war, so wie sie sich anhörte, so blöckt die noch daher. Und das war schon sehr faszinierend, also als ob man in so eine andere Zeit rutscht."
Als Junge liebte Frey schwarz-weiß Filme. Vor allem wegen der Schlager. Von denen singt er heute einige in seinen Programmen. Auch Stücke aus der Mitte des 19. Jahrhunderts - oder sogar noch älter - hat Frey gesucht:
"Und, wenn ich die wieder aufgreifen kann und kann die noch mal bringen, so alte Balladen. Es ist schon faszinierend, dass man so ein Kulturgut so originalgetreu wieder aufleben lassen kann. Allerdings ist es nur aktualisiert in dem Moment. Es gibt keine CD´s von mir, keine Aufnahmen, sondern ich singe das, aktualisiert, was da halt 1850 mal über die Bühne gegangen ist und dann ist es wieder weg. Und das ist ein großer Gegensatz zu der Zeit in der wir leben. Da hab´ ich Spaß dran."
"Altberlin oder Leierkästen, das ist nicht alles das Gleiche. Ich unterscheide mich schon sehr von dem, was man normalerweise so kennt und ich steh da gar nicht so drauf, auf den Opa im roten Sakko, der an der Kurbel dreht. Es gibt noch ein bisschen was anderes in Altberlin und es gibt eine andere Kultur in Altberlin, die war nicht so doof und die war nicht so öde und so ein bisschen grob oder so. Aber eigentlich, wenn ich mir so die 20ziger Jahre angucke, Anfang der 30ziger Jahre: sehr intelligent, ein Witz, eine Ironie auf hohem Niveau."
So isset: Die Einen schwelgen in der Vergangenheit. Die Anderen in der Zukunft. Axel Stüber hat Großes vor:
"Und davon träum ich immer mal, mit so einer Orgel auf den Festspielhügel nach Bayreuth zu gehen, dieses Selbstbewusstsein zu haben und den Wagnerianern ein Ständchen zu bringen. Tannhäuser, Ouvertüre."

Quellenhinweis:

Dr. Dietmar Jarofke: Anleitung für Drehorgelspieler

August 2009, ISSN 0940-466-X

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