Kieler Matrosenaufstand vor 100 Jahren

Ein frühes Beispiel von Selbstermächtigung

Zahlreiche Matrosen der Hochseeflotte stehen auf und vor einem der U-Boote, digital koloriertes Foto vom 5.11.1918
Aufstand der Matrosen der deutschen Hochseeflotte in Kiel: Ein Beauftragter der Reichsregierung spricht am 5. November 1918 zu den U-Boot-Mannschaften. © picture alliance / akg-images
Ein Plädoyer von Martin Lätzel · 26.10.2018
Revolte kurz vor Ende des Ersten Weltkriegs: Der Kieler Matrosenaufstand sollte als Ereignis der Vorgeschichte unserer Demokratie aufgewertet werden, fordert der Publizist Martin Lätzel – weil damals Untertanen zu politischen Subjekten wurden.
Vor 100 Jahren revoltierten in Kiel Arbeiter und Matrosen. Der Erste Weltkrieg war offenkundig verloren. An die Ereignisse wird in diesen Tagen allerorten erinnert.
Wenn diese Erinnerung nicht bloße historische Reminiszenz sein soll, stellt sich die Frage, ob sie in den Geschichtskanon einer freien und bürgerlichen Gesellschaft gehört. Reiht sich der Aufstand ein in die Ereignisse von 1848, vielleicht von 1968 und 1989? Welche Motive hatten die Matrosen und Arbeiter und lohnt die Vergegenwärtigung? Vor allem stellt sich die Frage, welchen Beitrag die Ereignisse in Kiel für die deutsche Geschichte leisten.

Das Schicksal selbst in die Hand nehmen

Offenkundig ist, dass die Matrosen und Arbeiter ihr Schicksal selbst in die Hand genommen haben, gegen ein unterdrückendes Militärsystem, das sich vom Volk entfernt hatte und eine sinnlose und für viele todbringende Taktik verfolgte. Fakt ist, dass die Arbeiter und Matrosen, die erst in Wilhelmshaven und dann in Kiel auf die Straße gingen, kurzfristig Erfolge verzeichnen konnten. Der sinnlose Krieg wurde beendet.
Aber stattdessen überzog eine Welle der Gewalt das Land, die Räte scheiterten und auch die darauf folgende Republik blieb instabil. Da ist in der Retrospektive nichts zu überhöhen oder zu interpretieren. Die Matrosen und Arbeiter wollten zunächst nichts weiter, als zu vermeiden, in den sicheren Tod geschickt zu werden. Dafür verweigerten sie den Gehorsam. Erst in der Folge der Ereignisse wuchs der Wunsch nach Mitbestimmung und Demokratie.
Trotzdem kann man aus den Ereignissen vor 100 Jahren Impulse für die Gegenwart ableiten. Ob die Erinnerung an den Kieler Matrosenaufstand mehr ist, als ein bloßes historisches Datum, ist eine Kulturfrage, nämlich die Frage nach unserem eigenen Verständnis von Demokratie.

Die Ordnung nicht als selbstverständlich nehmen

Zu ihren Wesenszügen gehört die bewusste und kritische Teilhabe. Demokratie funktioniert nicht ohne Engagement, sie funktioniert aber auch nicht kritiklos. Teilhabe bedeutet, an der demokratischen Entwicklung mitzuwirken. Das sollte durchaus auch in kritischem Bewusstsein erfolgen, wenn es konstruktiv bleibt. Die Matrosen haben Befehle verweigert, weil sie ihnen sinnlos erschienen.
Versetzen wir uns in die Situation der Matrosen vor 100 Jahren: Sie kannten nur den preußischen Obrigkeitsstaat. Die Aristokratie war Gesetz. Das entscheidende Moment, lag darin, die gegebene Ordnung eben nicht mehr als selbstverständlich zu nehmen, sondern zu hinterfragen, mutig zu sein und sich selbst zu ermächtigen. Letztlich wurden dadurch aus den Untertanen Bürgerinnen und Bürger.
Das Gedenken an den Aufstand in Kiel sollte deswegen im Sinne einer lehrreichen und ermutigenden Selbstermächtigung stattfinden. Sie begründet eine Widerstandskultur, deren Zweck nicht Zerstörung sondern Orientierung am Gemeinwohl ist. Widerstand gegen Ungerechtigkeit hat es auch in der deutschen Geschichte sicher zu wenig, aber eben doch immer wieder gegeben - denken Sie nur an den 20. Juli 1944. Darauf kann man durchaus stolz sein.

Fortschritt lässt sich gestalten

Sicher, wir stehen heute anders da, als vor 100 Jahren. Aber wir dürfen uns nicht zurücklehnen. Angesichts unserer demokratischen Geschichte ist heute revolutionäres Verhalten konstruktives politisches Handeln. Sicher, der Fortschritt lässt sich nicht aufhalten. Aber er lässt sich gestalten, wenn wir uns bewusst machen, dass wir ihn durch unsere Kultur selber entwickeln können, ja müssen.
Ein profundes Beispiel ist die digitale Transformation, in der wir uns gerade bewegen. Sie bietet große Chancen, wenn wir sie gestalten. Sie wird uns große Schwierigkeiten bringen, wenn wir die Entwicklung als aristokratisch und damit quasi unveränderbar ansehen. Da gilt es, sich selbst zu ermächtigen, sich mit Technik, Inhalten und Ideen dahinter auseinander zu setzen und vom digitalen Untertan zum digitalen Bürger, zur digitalen Bürgerin zu werden.
Wir können Subjekte unserer Geschichte sein. Das lehrt unter anderem die Erinnerung an die Kieler Matrosen und ihr Engagement vor genau 100 Jahren.

Martin Lätzel ist Theologe und Publizist. Für das Land Schleswig-Holstein arbeitet er derzeit in der Kulturverwaltung und ist Lehrbeauftragter an der Universität Kiel. Als Autor beschäftigt er sich mit Fragen von Kultur und Bildung, Religion und Gesellschaft. Zu kulturpolitischen Fragen bloggt er unter zwo43.

© privat
Mehr zum Thema