Kielce vor 70 Jahren

Das schlimmste Pogrom der Nachkriegszeit

Denkmal zur Erinnerung an den Pogrom von Kielce
Gedenkstein in der polnischen Stadt Kielce zur Erinnerung des Pogroms 1946, bei dem mehr als 40 polnische Juden ermordet wurden. © picture alliance / dpa / Foto: epa pap Piotr Polak
Von Otto Langels  · 04.07.2016
Das Gerücht, ein kleiner Junge sei von Juden entführt und mehrere Tage festgehalten worden, war Auslöser für das schlimmste Pogrom in der polnischen Nachkriegszeit: Vor 70 Jahren kamen mindestens 42 Juden durch einen entfesselten Mob in Kielce um.
"Polizisten erzählten Passanten auf der Straße, ein Junge sei von Juden entführt worden, habe aber fliehen können. Jetzt wolle man die Juden verhaften und weitere polnische Kinder befreien. Mitlaufende Bürger riefen: Die Juden haben ein Christenkind getötet."
So begann am Morgen des 4. Juli 1946 das Judenpogrom in der polnischen Provinzstadt Kielce, 180 Kilometer südlich von Warschau.
1945 lebten in Kielce keine Juden mehr. Sie waren von den Nazis ermordet worden, untergetaucht oder ins Innere der Sowjetunion geflohen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kehrten rund 200 Juden in ihre Heimatstadt zurück. Die meisten kamen in einem sogenannten Judenhaus unter, da polnische Nachbarn ihre Wohnungen in Besitz genommen hatten.
Am 1. Juli 1946 besuchte der neunjährige Henryk Blaszcyk Freunde in einem Nachbarort, tauchte aber erst zwei Tage später wieder zu Hause auf. Am nächsten Morgen ging der Vater mit Henryk zur Polizei und erzählte, sein Sohn sei von Juden entführt und in den Keller des Judenhauses verschleppt worden.
Polizisten machten sich mit den beiden auf den Weg dorthin, begleitet von einer wachsenden Menschenmenge. In dem Haus fand sich kein Keller, die Geschichte war offensichtlich erfunden, aber auf der Straße hatte sich inzwischen ein gewaltbereiter Mob versammelt; die ersten Steine flogen.
Der polnisch-amerikanische Historiker Jan Tomasz Gross hat die Ereignisse von Kielce minutiös rekonstruiert.
"Polizisten zerrten Juden aus dem Gebäude und lieferten sie der Menge auf der Straße aus, wo sie brutal umgebracht wurden. Bewaffnete Milizionäre reagierten darauf nicht. Sie hielten sich die Ohren zu, und schleppten sogar weitere Opfer aus dem Haus."

Mehrstündiges Massaker

Die Holocaust-Überlebenden waren dem Mob schutzlos ausgeliefert. Angetrieben von einem tief sitzenden Antisemitismus und der Angst, die Juden könnten womöglich ihren verlorenen Besitz zurückfordern, beteiligten sich Hunderte Einwohner Kielces an dem mehrstündigen Massaker.
Einer der Täter erzählte später vor Gericht:
"Ich habe einen Juden drei Mal mit dem Stein auf die Brust, das rechte Bein und den Kopf getroffen, dann ging ich weg. Ich möchte betonen, dass das Blut von dem Juden auf meine Kleidung spritzte. Als ich mir die Hose gesäubert hatte, sah ich, dass sie einen anderen Juden an den Beinen und Händen rausschleppten wie ein Kalb. Sie schlugen den Juden erst mit Stöcken, dann mit Eisenrohren."
Kinder wurden vom Balkon geworfen oder an den Hauswänden zerschmettert, ein junger Mann im Fluss gesteinigt. Freunde und Verwandte, die den Opfern helfen wollten, wurden abgedrängt und mussten ohnmächtig zusehen, wie das Morden weiterging.
"Arbeiter einer nahegelegenen Gießerei nutzten ihre einstündige Mittagspause, um 20 weitere Juden, die sich noch im Gebäude befanden, in einer zweiten Welle der Gewalt umzubringen."
Erst am Nachmittag beendeten herbeigerufene Soldaten mit Warnschüssen das schlimmste Pogrom der polnischen Nachkriegszeit. Zurück blieben 42 tote und 40 zum Teil schwer verletzte Juden. Mehrere Täter kamen vor Gericht, neun wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet.
Das Pogrom von Kielce im Sommer 1946 wurde zum "Symbol des weiter schwelenden und wieder aufflammenden Antisemitismus in Europa nach dem Holocaust", sagt der Berliner Historiker Wolfgang Benz.

Reaktion war ein Massenexodus

Auch andere polnische Städte waren Schauplatz von Pogromen, Schätzungen zufolge wurden mindestens 1.000 Menschen umgebracht. Ebenso kam es in Ungarn zu antisemitischen Ausschreitungen mit Plünderungen, Toten und Schwerverletzten. Die Reaktion war ein Massenexodus: 100.000 Juden flohen nach Westdeutschland und Österreich, wo sie nicht mehr um ihr Leben fürchten mussten, aber weiterhin Feindseligkeiten ausgesetzt waren. In einem Lager für jüdische Flüchtlinge am Rande Münchens hörten sie Drohungen wie: "Die Krematorien gibt es noch!", und: "Die Gaskammern warten auf euch!"
"Überall, nicht nur in Polen, gab es Ausschreitungen, Gewalt und Abneigung gegenüber Juden, die den Holocaust überlebt hatten und auf eine Heimat, auf Frieden, auf Sicherheit hofften."
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