Kersten Knipp über das Schicksalsjahr 1918

Von Gewalt, Umbrüchen und aufkeimender Hoffnung

Ein Sturmangriff österreichischer Truppen an der Isonzofront (Ostabschnitt der italienisch-österreichischen Front) 1915.
Sturmangriff österreichischer Truppen im Ersten Weltkrieg: Gewalt, die Europa für immer veränderte © picture alliance / dpa
Moderation: Ute Welty · 08.03.2018
Vor hundert Jahren brach Europa zusammen. 1918 war ein Schicksalsjahr, das der Publizist Kersten Knipp in seinem neuen Buch beleuchtet. Ein Gespräch über Gewaltorgien und Traumata, Staatsverständnis, historischen Wandel und den Möglichkeitssinn von Robert Musil.
Ute Welty: Europa vor 100 Jahren, das war vor allem ein Schlachtfeld. Der Erste Weltkrieg geht 1918 zu Ende. Er fordert Millionen von Opfern, und er verändert die Landkarte. Neue Staaten entstehen, Nationalismus und Chauvinismus erstarken.
All das hat Auswirkungen bis heute, und diese beschreibt Kersten Knipp in seinem Buch "Im Taumel. 1918 – ein europäisches Schicksalsjahr". Schönen guten Morgen, Herr Knipp!
Kersten Knipp: Schönen guten Morgen!
Welty: Befinden wir uns 2018 im Taumel, so wie sich Europa 1918 im Taumel befand?
Knipp: Ja, ich glaube, das kann man in der Tendenz jedenfalls so sagen, denn wir haben ja heute auch einige Probleme, die allerdings ganz andere Ursachen haben. Damals ging es darum, dass die Nationalstaaten sich erst einmal konstituieren, die aus dieser Erbmasse der großen Reiche, die damals zusammengebrochen sind, entstanden sind - also das Osmanische Reich, das Habsburger Reich, in kleinerem Maße das Hohenzollernreich, also deutsch – aber das ist nicht so wichtig.

Was ist ein Staat? Was ist eine Nation?

Wesentlich ist dieses Habsburger Reich, aus dem ja rund ein Dutzend neuer Staaten entstanden sind. Was ist ein Staat? Was ist eine Nation? Das ist natürlich eine Frage, die wir uns heute auch stellen, insbesondere natürlich unter dem Einwanderungsdruck, dass man sich eben fragt, was macht ein Land aus, was ist eine – nennen wir den Begriff in Anführungsstrichen – Leitkultur? Woran orientiert man sich? Integration, Anpassung, all diese Fragen diskutieren wir ja auch mit letztlich ja dem Hintergrund, klar definieren zu wollen, was eine Nation oder eine Gesellschaft heute ausmacht.
Welty: Die Auseinandersetzung mit Flucht und Migration, die halten Sie für die zentrale Frage heute. Wie optimistisch sind Sie, dass es gelingt, diesen Wandel zu gestalten?
Die syrischen Flüchtlinge Hussein (mit Sohn Chalid), seine Frau Nadia (r) und seine Schwester Fatima stehen am 29.11.2016 in Drochtersen (Niedersachsen) bei Stade nach dem Mittagessen in der Küche der Wohnung von Hussein.
Syrische Familie in Niedersachsen: Flucht und Migration werden uns Jahrzehnte beschäftigen© picture alliance / Christian Charisius/dpa
Knipp: Ich glaube, wenn er gelingt, dann wird das Jahrzehnte dauern, denn hier kommen doch eine ganze Reihe von verschiedenen Einflüssen oder auch Traditionen und kulturellen Erben im Plural zusammen, die sich jetzt völlig neu artikulieren müssen.
Wir haben damals gesagt "Wir holten Gastarbeiter und es kamen Menschen". Im Grunde ist es jetzt ähnlich: Wir öffneten uns Flüchtlingen, und es kamen Menschen. Und wir sehen jetzt doch, dass diese Menschen auch eigene Vorstellungen haben. Und das auszuhandeln, ich glaube, das ist ein Prozess, der gerade erst begonnen hat und der sich lange hinziehen wird.
Welty: Was 1918 kennzeichnet, das ist die Erfahrung eines bis dahin unvorstellbar grausamen Krieges. Inwieweit wirkt diese Erfahrung bis heute nach?

Gewaltorgie, Befreiung, Depression

Knipp: Ich glaube, es gab Langzeitwirkungen insbesondere mit Blick auf Ost- oder Mitteleuropa, so nannte man es damals, also das heutige Polen, Tschechien. Das sind ja Staaten, die sich haben befreien können damals aus den großen Reichen, zwischen denen sie aufgeteilt waren, insbesondere das Zarenreich, Russland also und das Habsburger Reich, Deutschland eben auch.
Und diese Staaten – die hatten ja auch natürlich erst mal diese ungeheure Gewaltorgie zu erleiden wie alle an diesem Krieg Beteiligten – hatten dann ihre Freiheit erkämpft, und dann, gut 20, 25 Jahre später, endete diese Freiheit schon wieder, nämlich durch den Zweiten Weltkrieg und dann eben die Neuaufteilung der Landkarte – der Kalte Krieg, die Grenze zwischen Kapitalismus und Kommunismus –, und die Freiheit war wieder weg.
Das heißt, aus einer Gewalt ist eine Hoffnung entstanden und dann wiederum eine neue Depression. Und ich glaube, diese schockartige Erfahrung hat sich bis heute gehalten. Wir sehen ja gerade, wie diese Länder, wie Polen und Tschechien unter ihren derzeitigen Regierungen ja jedenfalls, die ja aber immerhin auch gewählt worden sind, darauf achten, ihre Autonomie oder das, was sie als Autonomie erachten, geradezu verteidigen derzeit.
Welty: Glauben Sie, dass dieses Trauma auch nur ansatzweise ausreichend aufgearbeitet worden ist? Kunst und Kultur haben ja intensiv reagiert, aber große Kunst ist da ja auch aus so einem Moment der Hilflosigkeit entstanden.
Der österreichische Schriftsteller Robert Musil in einer undatierten Aufnahme.
Robert Musil: Es ist auch immer etwas anderes möglich© dpa / picture alliance / Ullstein
Knipp: Ja, das ist sie. Aber ich glaube, gerade die Kultur hat ganz beeindruckende Leistungen vollzogen auf Grundlage dieser katastrophalen Erfahrungen. Ich habe das in dem Buch auch ein bisschen beschrieben. Beispielsweise Robert Musil, "Der Mann ohne Eigenschaften" – Musil war auch im Krieg, er war Offizier und hat dieses große Stechen miterlebt. Er war teilweise davon beeindruckt, so ein bisschen wie Ernst Jünger, vielleicht einen Tick weniger pathetisch, aber er hat das mitgenommen und nachher dann aufgrund dieser Erfahrung diesen sogenannten "Möglichkeitssinn" entwickelt.

Blind in den Krieg marschiert

Man kennt das sicher alles auch schon aus der vorherigen Moderne, wo man eben mit der Kontingenzerfahrung spielte. Und das hat Musil auch ausgenutzt, indem er sagt, wir sind hier im Grunde geradezu blind marschiert in diesen Krieg, weil wir an große Erzählungen, so haben wir es später genannt, große Erzählungen, Lyotard, nannten. Und er setzt dem diesen Möglichkeitssinn entgegen, das heißt, die Überlegung, das alles immer auch ganz anders sein könnte.
Und das heißt, wir können uns in diesem Möglichkeitsraum einrichten, und wir pflegen dann diesen inneren Vorbehalt und denken, es muss so nicht unbedingt sein, es gibt auch andere Möglichkeiten. Diese Vielfalt des Denkens und auch daraus resultierend des Handelns, das ist vielleicht eine der wertvollsten europäischen Traditionen, die in dieser Zeit entstanden sind, nicht nur durch den Weltkrieg, es gab das auch schon vorher, aber doch ganz wesentlich noch mal befördert. Also das ist ein positives Erbe, wenn man so will.
Menschenmengen sammeln sich während der Novemberrevolution 1918 in München. 
Novemberrevolution 1918 in München: Hoffnung auf den Umbruch und neue Zeiten© picture alliance/dpa/
Welty: Sie haben es schon angesprochen, das Kriegsende 1918 war mit großen Hoffnungen verbunden. Es gab sogar ein Programm für den Weltfrieden, entworfen vom damaligen amerikanischen Präsidenten Wilson. Sollte man sich diese 14 Punkte vielleicht noch mal vornehmen und tatsächlich umsetzen?
Knipp: Ja, diese 14 Punkte sind ja ausgesprochen problematisch heute. Sie sind aus bestem Willen entstanden, daran besteht überhaupt kein Zweifel.
Aber wenn man sich anschaut, in den 14 Punkten steht etwa, Polen solle in den eindeutig polnisch besiedelten Gebieten ein eigener Staat werden. Das war gut gemeint. Aber was heißt "eindeutig polnisch besiedelte Gebiete"? Es lebten dort Deutsche, es lebten Litauer, es lebten Ukrainer in diesem Gebiet, das in Frage kam. Und diese Menschen sahen sich eben nicht als Polen.

Was heißt "eindeutig polnisch besiedelt"?

Die Polen hingegen sagten, doch, genau das gehört dazu, weil wir das besiedelt haben. Das heißt, dieser Punkt "eindeutig besiedelt" oder "eindeutig polnisch charakterisiert", der lässt sehr viel Interpretationsspielraum, und dieser wird dann natürlich gewalttätig ausgetragen, weil in diesen Gebieten die Bürger, die dort leben, ganz unterschiedliche Vorstellungen haben.
Beispielsweise das westliche Polen, die Menschen wollten dort überwiegend zu Deutschland gehören. Und es gab nachher auch Abstimmungen, ganz große Abstimmungen, in denen man entschieden hat, ja, also, es bleibt bei Deutschland. Oder oben auch, Ostpreußen, genau das Gleiche. Da entstehen natürlich Spannungen. Anderswo, später in Tschechien und die sogenannten Sudetendeutschen, da wurde dieses Problem gewalttätig ausgetragen. Also da entsteht gerade aus diesen Nationengedanken oder Identität, den Wilson in bester Absicht angesprochen hat, der bietet ungeheuren Konfliktstoff. Wir sehen das ja heute auch in anderen Teilen der Welt.
Welty: Hat man sich vielleicht auch zu sehr nach dem Ersten Weltkrieg auf Europa konzentriert und beispielsweise die arabische Welt außer Acht gelassen? Wobei wir dann wieder beim Thema Migration und Flucht sind?
Knipp: Das hat man auf jeden Fall, Stichwort Sykes-Picot, also die Aufteilung der Erbmasse des Osmanischen Reiches 1916, das war ja eine ganz rüde Vorgehensweise, hinter dem Rücken der arabischen Partner oder Kriegspartner, die man damals ja hatte, haben Frankreich und Großbritannien diese gewaltige Region aufgeteilt, ohne dass die Araber auch nur ein Wort mitsprechen konnten.

Hinter dem Rücken von Lawrence von Arabien

Lawrence von Arabien und Feisal, der König, sein Kriegspartner aus dem heutigen Saudi-Arabien, haben ja eng zusammengearbeitet. Und dann kommt diese ... hinter ihrem Rücken, übrigens auch hinter dem Rücken von Lawrence von Arabien, hat man das neu aufgeteilt. Das erzeugt natürlich ein ungeheures Misstrauen seitens der arabischen Partner, und ja, das setzt sich fort bis heute. Die ganzen Verschwörungstheorien, die es im Nahen Osten ja auch gibt, nicht nur, aber sie gibt es eben auch, die resultieren mit aus dieser Zeit.
Welty: Kersten Knipp nimmt die vergangenen einhundert Jahre in den Blick hier im "Studio 9"-Gespräch und in seinem Buch "Im Taumel". Herr Knipp, haben Sie herzlichen Dank!
Knipp: Ich danke Ihnen!
Welty: Erschienen ist "Im Taumel" bei Theiss, 424 Seiten kosten knapp 30 Euro.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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