Irkutsk

Spagat zwischen Ökologie und Industrialisierung

Schiff auf dem Baikalsee, Region Irkutsk, 14.08.2012
Der Baikalsee in der Region Irkutsk. © picture alliance / RIA Novosti / Iliya Pitalev
Von Thomas Franke  · 01.09.2014
Am Baikalsee in Sibirien ist viel Industrie angesiedelt. Gleichzeitig ist der See das größte Trinkwasser-Reservat der Welt und ein Magnet für Touristen. Vor diesem Hintergrund wächst das ökologische Bewusstsein in den Behörden.
Das Wasser des Baikalsees ist grau. Gleichmäßig tuckert das blau-weiß gestrichene Schiff das hügelige Westufer entlang. Es ist kühl. Wassilij Selisnjov steht in seinem Steuerhaus und trägt eine gefütterte Weste. Das schüttere graue Haar wird von einer Kapitänsmütze verdeckt. Selisnjov fährt Touristen, wenn auch wenige. Die Saison ist kurz. Anfang Juni hat es das letzte Mal geschneit.
"Um den 6. Mai herum war das Eis auf dem See weg. Und wenn im September die Kinder wieder in die Schule müssen, sind sowieso weniger Leute da. Dann beginnt die Angelsaison. Eigentlich ist es verboten, wir machen aber trotzdem nachts Scheinwerfer an. Die Leute kommen aufs Schiff, um in unserem Scheinwerferlicht Omul zu fangen. Manchmal fangen sie fünf, manchmal 50. So ist das nun mal beim Angeln, da hat man nicht immer Erfolg."
Omul ist eine Art Lachs, der nur im Baikalsee und den angeschlossenen Flüssen lebt, groß wie ein Hering. Omul ist DER Baikalfisch.
Auf Deck knutscht ein chinesisches Pärchen und fotografiert sich selbst. Es beginnt leicht zu regnen. Sieben Gäste sind zu wenig, sagt Kapitän Selisnjov. Er ist 65 Jahre alt. Das Schiff gehört ihm. Vorher war er Bauingenieur, Vorarbeiter.
"Damals wurden hier all die Pipelines gebaut, Öl und Gasleitungen, das Chemiekombinat in Angarsk. Da habe ich ein Bau-Technikum beendet und dann auf verschiedenen Großbaustellen gearbeitet."
Baikalsee hat Industrialisierung gut überstanden
Die Industrialisierung Sibiriens war eines der zentralen Projekte der Sowjetunion. Der Baikalsee hat das erstaunlich gut überstanden.
"Ich kann eben einen Eimer runterlassen und Wasser holen. Wir trinken das, natürlich. Es ist nur wenig Salz drin. Es ist normales, gutes Trinkwasser, weich, man kann damit auch gut Haare waschen, ohne Shampoo."
Damit das so bleibt, hat die UNESCO 1996 die Region zum Weltnaturerbe erklärt. Der Baikalsee ist der tiefste See der Erde, 1642 Meter. Und er ist der älteste See der Welt. 25 Millionen Jahre, sagen Wissenschaftler.
Am Ufer des Sees steht eine Zellulosefabrik. Sie steht zurzeit still, endgültig ist das aber nicht, meint der Kapitän.
"Ich habe keinen Effekt bemerkt. Bei uns war das Wasser immer gut. Die Abwässer der Zellulosefabrik kamen nicht bis zu uns."
Das liegt an der Strömung des Baikalsees und den riesigen Ausmaßen: Mit 700 Kilometern Länge würde er von Kiel bis München reichen – Die Breite beträgt 82 Kilometer. In ihm entspringt einer der wichtigsten Flüsse Sibiriens, die Angara.
Die Grenze zwischen dem Baikalsee und dem Fluss Angara.
Die Grenze zwischen dem Baikalsee und dem Fluss Angara.© Thomas Franke
Um den See ranken sich viele Sagen: Mongolen-Anführer Dschingis Khan sei im See bestattet. Auch nach dem Zarengold wurde auf seinem Grund schon gesucht. Bevor Russen das Land besiedelten, lebten hier vor allem Burjaten, und denen ist der Baikalsee heilig. Sie erschufen für ihn eigens eine Legende.
Sprecher: "Vater Baikal hatte mehr als 300 Söhne, aber nur eine Tochter, die wunderschöne Angara. Doch die war sehr unglücklich. Von einer Möwe hörte sie vom jungen Jenissej. Sie verliebte sich unsterblich, obwohl sie ihn noch nie gesehen hatte. Eines Nachts machte sich die Angara auf den Weg zum Jenissej. Doch Vater Baikal merkte es und warf ihr einen Stein hinterher. Er traf nur den Saum ihres Kleides und die Angara entschwand zum Jenissej."
Tatsächlich markiert ein Fels die Grenze zwischen dem See und dem Fluss Angara. Gut 50 Kilometer flussabwärts liegt Irkutsk. Von der Sowjetunion zum Verkehrsknotenpunkt ausgebaut.
Historischer O-Ton: "Irkutsk, eine der ältesten Städte Sibiriens. Ihr Schicksal war in vieler Hinsicht vorher bestimmt durch die geographische Lage: Die Stadt liegt an der Angara, nicht weit vom Baikalsee. An der Kreuzung alter Handelswege und der transsibirischen Eisenbahnstrecke, neben dem Kohlebecken von Tscheremchovo, der ehemals wichtigsten Energiebasis dieser Gegend. Heute laufen durch Irkutsk die Schienenstränge, Auto und Luftwege der Baikalregion, in die Mongolei, nach Jakutien."
Die eigentlich unbewohnbaren Gegenden im Norden und Osten Russlands wurden von der Sowjetunion zwangsindustrialisiert, meist mit Hilfe von Häftlingen. Millionen kamen dabei ums Leben. Dazu schweigt der sowjetische Film aus den 80ern.
Blick in eine Halle der Flugzeugfabrik Irkut unweit des Baikalsees.
Flugzeugfabrik Irkut.© Thomas Franke
Die damals errichteten Fabriken für den Schwermaschinenbau stehen noch heute. Zu den größten Arbeitgebern der Region zählt die Flugzeugfabrik Irkut. 12.000 Menschen sind hier beschäftigt.
In der Werkshalle stehen hellgelbe Rümpfe von Düsenjägern. Flügel und Leitwerk fehlen noch, die Kuppeln für die Pilotenkanzeln sind schon montiert. Es sind Rümpfe des Jagdbombers Suchoi 30, oder SU 30. Die Flugzeugfabrik gibt es seit 1935. In den letzten sieben Jahren hat Irkut nach eigenen Angaben seine Produktion verdreifacht, sagt Direktor Alexander Veprev.
"Die SU 30 ist der wichtigste Rüstungstyp. Wir haben davon in den letzten zehn Jahren Flugzeuge im Wert von mehr als zehn Milliarden Dollar gebaut, für den Export und für die russische Luftwaffe."
Flugzeuge dieses Typs verkauft Irkut unter anderem nach Malaysia, Indien und Algerien.
"Das zweite Flugzeug für Im- und Export ist der Kampfjet Jak 130. Das ist das Grundmodell für die Fliegerausbildung. 80 Prozent der Piloten werden auf diesem Flugzeug ausgebildet."
Eine weitere große Halle. Links und rechts stehen Jagdbomber mit Flügeln und Leitwerk. In einem Metallständer stehen flache Metallplatten, etwa einen Meter lang. Teile für den Airbus A320. In jedem dritten Airbus fliegen Teile aus Irkutsk. Der westeuropäische Konzern spricht von einer eventuellen Ausweitung der Zusammenarbeit, trotz der Krise. Alle Beteiligten hoffen auf eine Deeskalation. Direktor Veprev:
"Der Anteil von Airbus an der Produktion ist sehr klein. Dazu kommt ja, dass das nur Komponenten sind und kein ganzes Flugzeug."
Geschäftsbeziehungen trotz des EU-Russland-Konflikts
Und Alexander Kovalev, der stellvertretende Direktor von Irkut, ergänzt:
"Der Westmarkt ist trotz allem wichtig. Wir hoffen, dass es keinen Kalten Krieg geben wird. Die Priorität ist aber der russische Markt. Denn das Volumen ist groß. Als Spezialist für Flugzeuge kann ich wirtschaftliche Fragen nicht kommentieren. Bisher hat sich das nicht besonders auf das Unternehmen ausgewirkt."
Sein Vorgesetzter, Fabrikdirektor Veprev, spielt den Konflikt zwischen Russland und der EU herunter. Auf deutsche Technologie möchte er nicht verzichten.
"Wo es besonders genau sein muss, nehmen wir deutsche Technik. Das Gute ist, dass wir uns hier Technologien nach internationalen Standards aneignen."
Im nächsten Jahr will Irkut ein Konkurrenzflugzeug zum Airbus auf den Markt bringen.
Mehr als 25 verschiedene Flugzeugtypen produziert Irkut. Darunter Exoten wie die Flugzeuge vom Typ Beriev. Das sind Löschflugzeuge, die im Flug ihren Rumpf ins Wasser tauchen und dabei bis zu 12 Tonnen Wasser aufnehmen. Zum Einsatz kommen sie weltweit, aber vor allem in Russland bei Wald- und Torfbränden.
Historischer O-Ton: "Energie für die Stadt liefert die Irkutsker GES an der Staustufe der Angara. Die Irkutsker GES wurde die Grundlagen der Entwicklung energieintensiver Produktion in den Satellitenstädten von Irkutsk, Angarsk und Schelechov."
GES steht für Gidro Elektro Stancia – ein Wasserkraftwerk, das im Dezember 1956 ans Netz ging. Der Film aus dem Jahr 1980 rühmt die Industrialisierung der Region. Dafür brauchte die Sowjetunion Strom und staute deshalb nahezu alle großen Ströme. Der Hauptingenieur des Irkutsker Wasserkraftwerks, Evgenij Kolesnikov, steht am Sockel der Staumauer und zeigt ins Wasser:
"Sie können hier ganz klar sehen, dass unser Unternehmen die Umwelt nicht schädigt. Das Wasser kann man trinken."
Das ist nicht selbstverständlich.
Hier scheint die Zeit stehen geblieben: Lenin in der Turbinenhalle des Irkutsker Wasserkraftwerks Gidro Elektro Stancia (GES).
Hier scheint die Zeit stehen geblieben: Lenin in der Turbinenhalle des Irkutsker Wasserkraftwerks Gidro Elektro Stancia (GES).© Thomas Franke
Die nächste große Stadt an der Angara, die Stadt Bratsk, 600 Kilometer flussabwärts, war am Ende der Sowjetunion eine der am stärksten verseuchten Städte Russlands. Ökologie spielte bei der Industrialisierung Sibiriens keine Rolle. Moderne Staustufen sind normalerweise mit Fischtreppen ausgerüstet, um das Ökosystem nicht zu unterbrechen. Das Wasserkraftwerk in Irkutsk ist bis heute nicht nachgerüstet. Das sei auch nicht nötig, erläutert Hauptingenieur Evgenij Kolesnikov.
"Wir haben schon vor langer Zeit zwei Ökosysteme formiert. Das eine ist dеr Stausee. Das andere der Fluss Angara. Und dementsprechend gibt es auch keine Pläne, irgendwelche Fischtreppen zu bauen."
Umweltschützer sehen das anders. Das Leben der Fische im Baikalsee hängt aber mit den Flüssen zusammen. Sie ziehen zum Laichen in die Flüsse.
Die Turbinenhalle. Hier scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Die Wand himmelblau getüncht, Armleuchter aus der Stalinzeit. Gemalt in Öl steht Lenin, sieben Meter hoch am Ufer, hinter ihm der Fluss Angara und der Schamanenfels. Seine Rockschöße wehen im revolutionären Wind.
Kraftwerke waren ein Kern der Sowjetideologie, geprägt von Lenins Parolen – zum Beispiel: Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des gesamten Landes.
Zurück – 50 Kilometer flussaufwärts – zum Baikalsee. Ein Seminarraum im gleichnamigen Museum. Von der Decke hängt ein Projektor, an der Stirnwand ein großer Monitor. Um einen großen Tisch sitzen etwa 20 Kinder und Jugendliche vor Mikroskopen.
"Wir haben Wasser analysiert. Mineralwasser und Seewasser. Die chemischen Bestandteile. Und den Geschmack. Sehr köstlich."
Heimatkunde am Baikalsee
Denis ist 13 Jahre alt und kommt aus Tulun, etwa 450 Kilometer vom Baikalsee entfernt. Er ist zum dritten Mal hier. Jana ist zum ersten Mal da.
"Wir sind gerade im Ferienlager und machen Heimatkunde. Wir lernen etwas über den See, wer im Wasser des Baikal lebt. Einfach alles. Und das ist interessant. Das kann man nur hier am Baikalsee lernen."
Das Ganze nennt sich Kinderumweltschule. Die Lehrerin, Margarita Valentinovna, sagt, das Ziel sei, dass die Schüler den kleinsten Lebewesen des Baikalsees Aufmerksamkeit schenken, denn sie sind die Grundlage allen Lebens im größten See der Erde.
Das ökologische Bewusstsein ist in Russland noch nicht sehr ausgeprägt. Das könnte dem Baikalsee zum Verhängnis werden.
Der See wird wärmer. Das ist eine Bedrohung für das einmalige und wichtige Ökosystem.
Viele Verantwortliche in Verwaltung, Wirtschaft und auch Umweltschützer sehen die Perspektive der Region im Tourismus. Bisher gibt es am See keine Bettenburgen. Es ist auch fraglich, ob der Baikalsee überhaupt Massen von Touristen anziehen wird. Bisher kommen, neben Russen, ein paar Chinesen und Mongolen. Westliche Touristen sind oft mit der Transsibirischen Eisenbahn unterwegs, bleiben ein bisschen, fahren weiter.
Touristen aus dem Nordosten Russlands
Eine frische Brise ist aufgekommen. Eine russische Familie am Heck des Ausflugsdampfers macht die Jacken zu.
"Ich war schwimmen. Ich schwimme sonst bei uns im Fluss bei vier bis fünf Grad. Im Vergleich dazu, ist es hier ziemlich warm."
Jewgenij Anatoljewitsch und seine Familie leben in Tschukotka. Das ist noch spezieller, weit im Nordosten und eigentlich fast unbewohnbar. Fährt man von dort weiter nach Osten, kommt man nach Alaska. Für Jewgenij und seine Familie ist der Urlaub am Baikalsee ein Ausflug in südliche Gefilde. Seine Mutter bietet ein paar Wurstscheiben an.
Sie: "Wir sind hier groß geworden, aufgewachsen. Haben hier unsere Kindheit verbracht und kommen bis heute hierher. Wir mögen das. Wir machen hier Urlaub. Uns gefallen unsere Orte. Woanders ist es uns zu heiß und zu ungemütlich. Hier fühlen wir uns wohl. Wir sind nun mal Sibirier. Wir sind hier in Ostsibirien aufgewachsen und leben hier."
Er: "Wir waren schon zwei Mal in der Türkei. Auch mal in Ägypten. Da ist es sehr heiß, nicht schön für Leute, die solche Temperaturen nicht gewöhnt sind."
Der zehnjährige Andrej jedenfalls fühlt sich wohl. Er ist zum ersten mal hier.
Sie: "Wir wollten dem Enkel den Baikal zeigen. Die Legende."
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