Keine unschuldige Demokratie
Zu jeder vollen Dekade wird kritisch des Anschlusses Österreichs gedacht, aber kaum einer macht sich die Mühe und sucht die Wurzeln in den Identitätskrisen der Deutschen der Habsburgermonarchie, als deren Träger sie galten und mit deren Verfallserscheinungen sie seelisch zurechtkommen mussten.
Im übrigen größeren Reich noch eine Stütze zu haben, war eine Grundbedingung dafür, die Zeit nach der Schlacht bei Königgrätz, also nach ihrer endgültigen Verdrängung aus dem Reich, dem sie jahrhundertelang Form gegeben haben, zu bewältigen. Es blieb nichts anderes, als das Heilige Römische Reich Deutscher Nation in verkleinertem Format und nur noch mit 22%anteil Deutschen unverdrossen fortzuführen. Die Habsburgermonarchie umfasste etwas mehr Menschen als das Bismarckreich, doch dieses galt fraglos als Nationalstaat von Deutschen, während das Habsburgerreich ein Vielvölkerstaat war, in dem die verbliebenen Deutschen täglich um ihre kulturelle Hegemonie zu kämpfen hatten. Diese Prägung ist noch spürbar in den Alpenländern, bei Wienern, und den Abkömmlingen der Volksdeutschen der Monarchie.
Im kollektiven Unterbewusstsein schlummerte bei allen das, was Günter Nenning treffend "das deutsche Geisterreich" nennt. Mit jedem Machtverlust der Donaumonarchie mussten die Deutschen als das dominierende und prägende Staatsvolk ihr Geisterreich: ihre Rolle und Sendungsbewusstsein neu finden. Den ersten Schlag hatte es einzustecken mit dem Ende des Heiligen Römischen Reiches 1806, als eine noch mittelalterlich-universelle Aura der napoleonischen Modernität gewichen war und die Völker – unter der Mithilfe von Johann Gottfried Herder – sich nach Nationalgeist und Nationalkultur umsehen mussten. Der Vormärz, die Schubertianer, die Barrikaden 1848 in den Wiener Gassen unter Schwarz-Rot-Gold und schließlich der Bruder des Kaisers, Erzherzog Johann, das Erste deutsche Staatsoberhaupt über der Frankfurter Paulskirche, - sie leisteten Geburtshilfe für einen Nationalgeist, der nicht an Landesgrenzen halt macht.
So gerüstet schafften es die Deutschen der Donaumonarchie noch einmal, den Vielvölkerstaat zu prägen: Sie sorgten für die Allgültigkeit der deutschen Sprache, vor allem in der großen Armee, und mit der unvergleichlichen Ausstrahlung der Reichshauptstadt. Wien wurde zum größten Germanisierer des 19. Jahrhunderts und zum Repräsentanten der deutschen klassischen Musik wie der aus böhmisch-jüdischen Wurzeln gewachsenen Moderne der Jahrhundertwende.
An diesem Sockel eines erfolgreichen Kulturkampfes machten sich plötzlich die aufkeimenden Nationalgeister der anderen Völker zu schaffen. Der sogenannte Völkerfrühling, beginnend mit "Sprachenstreit" und endend mit dem Ersten Weltkrieg, zerlegte den Resonanzboden für das Sendungsbewusstsein der Deutschen Monarchie in seine Bestandteile. Sie gerieten unter die Fuchtel der jungen magyarischen und slawischen Nationalismen, spektakulär der Fall der Sudetendeutschen in der gegründeten Tschechoslowakei. Oder sie fanden sich in dem klein geschnittenen Siedlungsgebiet "Deutschösterreich", allerdings bei Verlust ihrer Rolle – und einem funktionslosen Kleinstaat, der ihrem Selbstverständnis widersprach und in dem sie nicht heimisch fühlten.
Der Kleinstaat erklärte sich 1919 zum "Bestandteil der deutschen Republik". Für die Weimarer Nationalversammlung war Deutschösterreich das, was man nach dem Fall der Mauer "Beitrittsgebiet" nannte. Noch 1919 sollten die Beitrittsverhandlungen beginnen, und wurden von der Entente verboten und torpediert. Frankreich mobilisierte gegen das "Deutsch" im Staatsnamen und machte den "Pangermanismus" der Österreicher zum Alarmthema seiner Außenpolitik. So verhinderte es auch die als Vorstufe der Vereinigung geplante Zollunion mit Deutschland und reagierte bösartig, als Reichsaußenminister Stresemann nach Wien zur Besprechung fuhr, wie denn die Reichsministerien denn zwischen Wien und Berlin aufzuteilen wären.
Die Westmächte hätten also Gelegenheit genug gehabt, den Anschluss Österreichs an Deutschland zu ordentlichen Zeiten und auf ordentliche Weise zuzulassen. Dass die Österreicher, inzwischen Unerlöste geworden, zu einem Schwungrad der Revision von Versailles und Saint-Germain und seiner politischen Entgleisung werden würden, wollten sie nicht ganz begreifen. Mit einem gewissen Zynismus konnte Hitler vorführen, wie man zur Lösung nationaler Probleme eben nicht bei westlichen Demokratien und gar Siegermächten um Erlaubnis bittet.
Die Österreicher haben ihre Begeisterung teuer bezahlt, vor allem mit Verstrickungen, die in einer verhängnisvollen Logik ihrer Geschichte liegen. Sie hat ihnen einen inneren Zwang zur Loyalität, auch einem falschen Regime gegenüber, auferlegt. Sie sind ihm schier ausweglos, unbedingt, und mit gewohnter Energie fürs größere Ganze gefolgt.
Als Bruno Kreisky in der schwedischen Emigration seinem Freund Willy Brandt gestand, dass Österreich nach dem Kriege wohl aus dem Reich herausgehen würde, war das einzige Mal ihre Freundschaft gefährdet.
Josef Schmid, geboren 1937 in Linz/Donau, Österreich, zählt zu den profiliertesten deutschen Wissenschaftlern auf seinem Gebiet. Er studierte Betriebs- und Volkswirtschaft sowie Soziologie, Philosophie und Psychologie. Von 1980 bis 2005 war Schmid Inhaber des Lehrstuhls für Bevölkerungswissenschaft an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Seine Hauptthemen: Bevölkerungsprobleme der industrialisierten Welt und der Entwicklungsländer, Kulturelle Evolution und Systemökologie. Schmid ist Mitglied namhafter nationaler und internationaler Fachgremien. Veröffentlichungen u.a.: Einführung in die Bevölkerungssoziologie (1976); Bevölkerung und soziale Entwicklung (1984); Das verlorene Gleichgewicht – eine Kulturökologie der Gegenwart (1992); Sozialprognose – Die Belastung der nachwachsenden Generation (2000). In "Die Moralgesellschaft – Vom Elend der heutigen Politik" (Herbig Verlag, 1999) wird der Widerspruch zwischen Vergangenheitsfixiertheit und der Fähigkeit zur Lösung von Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben scharfsichtig analysiert.
Im kollektiven Unterbewusstsein schlummerte bei allen das, was Günter Nenning treffend "das deutsche Geisterreich" nennt. Mit jedem Machtverlust der Donaumonarchie mussten die Deutschen als das dominierende und prägende Staatsvolk ihr Geisterreich: ihre Rolle und Sendungsbewusstsein neu finden. Den ersten Schlag hatte es einzustecken mit dem Ende des Heiligen Römischen Reiches 1806, als eine noch mittelalterlich-universelle Aura der napoleonischen Modernität gewichen war und die Völker – unter der Mithilfe von Johann Gottfried Herder – sich nach Nationalgeist und Nationalkultur umsehen mussten. Der Vormärz, die Schubertianer, die Barrikaden 1848 in den Wiener Gassen unter Schwarz-Rot-Gold und schließlich der Bruder des Kaisers, Erzherzog Johann, das Erste deutsche Staatsoberhaupt über der Frankfurter Paulskirche, - sie leisteten Geburtshilfe für einen Nationalgeist, der nicht an Landesgrenzen halt macht.
So gerüstet schafften es die Deutschen der Donaumonarchie noch einmal, den Vielvölkerstaat zu prägen: Sie sorgten für die Allgültigkeit der deutschen Sprache, vor allem in der großen Armee, und mit der unvergleichlichen Ausstrahlung der Reichshauptstadt. Wien wurde zum größten Germanisierer des 19. Jahrhunderts und zum Repräsentanten der deutschen klassischen Musik wie der aus böhmisch-jüdischen Wurzeln gewachsenen Moderne der Jahrhundertwende.
An diesem Sockel eines erfolgreichen Kulturkampfes machten sich plötzlich die aufkeimenden Nationalgeister der anderen Völker zu schaffen. Der sogenannte Völkerfrühling, beginnend mit "Sprachenstreit" und endend mit dem Ersten Weltkrieg, zerlegte den Resonanzboden für das Sendungsbewusstsein der Deutschen Monarchie in seine Bestandteile. Sie gerieten unter die Fuchtel der jungen magyarischen und slawischen Nationalismen, spektakulär der Fall der Sudetendeutschen in der gegründeten Tschechoslowakei. Oder sie fanden sich in dem klein geschnittenen Siedlungsgebiet "Deutschösterreich", allerdings bei Verlust ihrer Rolle – und einem funktionslosen Kleinstaat, der ihrem Selbstverständnis widersprach und in dem sie nicht heimisch fühlten.
Der Kleinstaat erklärte sich 1919 zum "Bestandteil der deutschen Republik". Für die Weimarer Nationalversammlung war Deutschösterreich das, was man nach dem Fall der Mauer "Beitrittsgebiet" nannte. Noch 1919 sollten die Beitrittsverhandlungen beginnen, und wurden von der Entente verboten und torpediert. Frankreich mobilisierte gegen das "Deutsch" im Staatsnamen und machte den "Pangermanismus" der Österreicher zum Alarmthema seiner Außenpolitik. So verhinderte es auch die als Vorstufe der Vereinigung geplante Zollunion mit Deutschland und reagierte bösartig, als Reichsaußenminister Stresemann nach Wien zur Besprechung fuhr, wie denn die Reichsministerien denn zwischen Wien und Berlin aufzuteilen wären.
Die Westmächte hätten also Gelegenheit genug gehabt, den Anschluss Österreichs an Deutschland zu ordentlichen Zeiten und auf ordentliche Weise zuzulassen. Dass die Österreicher, inzwischen Unerlöste geworden, zu einem Schwungrad der Revision von Versailles und Saint-Germain und seiner politischen Entgleisung werden würden, wollten sie nicht ganz begreifen. Mit einem gewissen Zynismus konnte Hitler vorführen, wie man zur Lösung nationaler Probleme eben nicht bei westlichen Demokratien und gar Siegermächten um Erlaubnis bittet.
Die Österreicher haben ihre Begeisterung teuer bezahlt, vor allem mit Verstrickungen, die in einer verhängnisvollen Logik ihrer Geschichte liegen. Sie hat ihnen einen inneren Zwang zur Loyalität, auch einem falschen Regime gegenüber, auferlegt. Sie sind ihm schier ausweglos, unbedingt, und mit gewohnter Energie fürs größere Ganze gefolgt.
Als Bruno Kreisky in der schwedischen Emigration seinem Freund Willy Brandt gestand, dass Österreich nach dem Kriege wohl aus dem Reich herausgehen würde, war das einzige Mal ihre Freundschaft gefährdet.
Josef Schmid, geboren 1937 in Linz/Donau, Österreich, zählt zu den profiliertesten deutschen Wissenschaftlern auf seinem Gebiet. Er studierte Betriebs- und Volkswirtschaft sowie Soziologie, Philosophie und Psychologie. Von 1980 bis 2005 war Schmid Inhaber des Lehrstuhls für Bevölkerungswissenschaft an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Seine Hauptthemen: Bevölkerungsprobleme der industrialisierten Welt und der Entwicklungsländer, Kulturelle Evolution und Systemökologie. Schmid ist Mitglied namhafter nationaler und internationaler Fachgremien. Veröffentlichungen u.a.: Einführung in die Bevölkerungssoziologie (1976); Bevölkerung und soziale Entwicklung (1984); Das verlorene Gleichgewicht – eine Kulturökologie der Gegenwart (1992); Sozialprognose – Die Belastung der nachwachsenden Generation (2000). In "Die Moralgesellschaft – Vom Elend der heutigen Politik" (Herbig Verlag, 1999) wird der Widerspruch zwischen Vergangenheitsfixiertheit und der Fähigkeit zur Lösung von Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben scharfsichtig analysiert.

Josef Schmid© Maurer-Hörsch