Keine Scheu vor Pathos und Verletzlichkeit
Ernest Wichner, geboren 1952 im rumänischen Banat, lebt seit 1975 in der Bundesrepublik. Den größten Teil seines bisherigen Lebens hat er somit im "Westen" zugebracht, doch geblieben ist ihm nicht nur ein ganz leichter, wie andeutend rollender Akzent, an den sich wohl jeder erinnert, der Wichner jemals sprechen gehört hat.
Übrigens häufig in Sachen anderer: Der langjährige Leiter des Berliner Literaturhauses ist ein versierter Ausstellungsmacher und renommierter Übersetzer, als stiller Empathiker und fein widerborstiger Beobachter jedoch das pure Gegenteil eines lärmend-umtriebigen Betriebsmenschen.
Verankert im Freundeskreis um Herta Müller und Richard Wagner, musste er zuletzt im Fall des als früheren IM enttarnten Oskar Pastior die Erfahrung machen, wie ambivalent sich Biografien gerade im Kosmos des östlichen Totalitarismus gestalteten. Oder gestaltet wurden, von fremder Hand forciert und deformiert. Heißt es womöglich über-interpretieren, wenn man das Echo eines humanen Erschreckens über derlei Fremdbestimmung noch in Wichners neuem Gedichtband spürt, der den rätselhaft schönen Titel "bin ganz wie aufgesperrt" trägt?
Genauigkeit der Wahrnehmung und eine Achtsamkeit voll unangestrengter Poesie: "Konkret: sag, was/ diese Dohle sieht, da du sie anschaust. Sie/ geht die Krähenspuren ab im Schnee des/ Daches vis-à-vis und misst den Rhythmus/ ihrer Schritte ab an deinem Wimpernschlag./ Aus ihren Augenwinkeln fällt das Licht/ auf dich und deine morgendlichen Malaisen."
Berückend und erstaunlich zugleich, wie hier Reflexionen (man scheut das verbrauchte Wort von der "Gedankenlyrik") in Anschauung und Bild übergehen und eine Antwort dennoch in der Schwebe bleibt auf die Frage, "wo in der Verknotung der Sinne/ sich deine Anmut aufhält". Ganz offensichtlich: Hier schreibt einer, der die Grunderfahrung nicht etwa nur der literarischen Moderne, sondern einer übergreifenden condition humaine gestaltend hin und her wendet, wie etwa in diesen, wie von fern an Georg Büchners berühmten Schädel-Satz erinnernden Zeilen: "Wer hat, was in uns wühlt, codiert/ und zum Problem gemacht." Doch zwischen Verstummen und kryptisch-artifiziellen Experimenten gibt es mindestens noch ein Drittes, wo die fragwürdig gewordenen, konventionell verflachten Wörter wieder des Fragens für würdig befunden werden: "Entschuldige bitte, ich redete noch vor aller Empfindung,/ sagte himmelhoch und Meeraustrinken…"
Keine pikierte Scheu also vor Pathos und Verletzlichkeit, kein vorzeitiges Kapitulieren vor der uralten Komplexität von Liebe und Verlust, Hoffnung und Enttäuschung. "Wär mir noch Zeit geblieben zu erzählen vom Bach, dem/ Teich und auch vom Meer, an dessen Küste sich die Wege trennen/…/ Ja, laß uns absehn von den falschen Tönen und vom Geschrei, verlocken doch/ die stillen Augen hinzusehen, auch wenn es schmerzt und/ Blick in Blick zurück fällt wie nicht da."
Fast scheint es, als sei die Dichter-Laufbahn des Ernest Wichner von ebenso konzentrierter Beiläufigkeit, dem Eigentlichen verpflichtet und sich um die Aufmerksamkeits-Riten des Literaturmarktes nicht wirklich bekümmernd. Da er jedoch bereits zuvor schon einige Gedichtbände veröffentlicht hat, unverwechselbar in ihrem Ton leiser Eindringlichkeit, sei es an dieser Stelle gewagt, jenseits solch skrupulöser Zimmerlautstärke nun doch einmal die Werbetrommel zu rühren. Wer nämlich findet in unseren, auf konforme Ironie getrimmten Zeiten noch Kraft und Mut, ohne jegliche Larmoyanz solche Zeilen zu schreiben: "Deshalb, befiehl/ den Augen: schaut noch mal, vermesst, was ihr nicht halten/ könnt, trübt euch ein und lasst die Tränen fließen. Denn/ euer Stolz war Trübsinn, Rückzug lag in eurem Licht und bestenfalls verqueres Zaudern." Chapeau!
Besprochen von Marko Martin
Ernest Wichner: Bin ganz wie aufgesperrt. Gedichte
Verlag Wunderhorn, Heidelberg 2010
48 Seiten, 13,50 Euro
Verankert im Freundeskreis um Herta Müller und Richard Wagner, musste er zuletzt im Fall des als früheren IM enttarnten Oskar Pastior die Erfahrung machen, wie ambivalent sich Biografien gerade im Kosmos des östlichen Totalitarismus gestalteten. Oder gestaltet wurden, von fremder Hand forciert und deformiert. Heißt es womöglich über-interpretieren, wenn man das Echo eines humanen Erschreckens über derlei Fremdbestimmung noch in Wichners neuem Gedichtband spürt, der den rätselhaft schönen Titel "bin ganz wie aufgesperrt" trägt?
Genauigkeit der Wahrnehmung und eine Achtsamkeit voll unangestrengter Poesie: "Konkret: sag, was/ diese Dohle sieht, da du sie anschaust. Sie/ geht die Krähenspuren ab im Schnee des/ Daches vis-à-vis und misst den Rhythmus/ ihrer Schritte ab an deinem Wimpernschlag./ Aus ihren Augenwinkeln fällt das Licht/ auf dich und deine morgendlichen Malaisen."
Berückend und erstaunlich zugleich, wie hier Reflexionen (man scheut das verbrauchte Wort von der "Gedankenlyrik") in Anschauung und Bild übergehen und eine Antwort dennoch in der Schwebe bleibt auf die Frage, "wo in der Verknotung der Sinne/ sich deine Anmut aufhält". Ganz offensichtlich: Hier schreibt einer, der die Grunderfahrung nicht etwa nur der literarischen Moderne, sondern einer übergreifenden condition humaine gestaltend hin und her wendet, wie etwa in diesen, wie von fern an Georg Büchners berühmten Schädel-Satz erinnernden Zeilen: "Wer hat, was in uns wühlt, codiert/ und zum Problem gemacht." Doch zwischen Verstummen und kryptisch-artifiziellen Experimenten gibt es mindestens noch ein Drittes, wo die fragwürdig gewordenen, konventionell verflachten Wörter wieder des Fragens für würdig befunden werden: "Entschuldige bitte, ich redete noch vor aller Empfindung,/ sagte himmelhoch und Meeraustrinken…"
Keine pikierte Scheu also vor Pathos und Verletzlichkeit, kein vorzeitiges Kapitulieren vor der uralten Komplexität von Liebe und Verlust, Hoffnung und Enttäuschung. "Wär mir noch Zeit geblieben zu erzählen vom Bach, dem/ Teich und auch vom Meer, an dessen Küste sich die Wege trennen/…/ Ja, laß uns absehn von den falschen Tönen und vom Geschrei, verlocken doch/ die stillen Augen hinzusehen, auch wenn es schmerzt und/ Blick in Blick zurück fällt wie nicht da."
Fast scheint es, als sei die Dichter-Laufbahn des Ernest Wichner von ebenso konzentrierter Beiläufigkeit, dem Eigentlichen verpflichtet und sich um die Aufmerksamkeits-Riten des Literaturmarktes nicht wirklich bekümmernd. Da er jedoch bereits zuvor schon einige Gedichtbände veröffentlicht hat, unverwechselbar in ihrem Ton leiser Eindringlichkeit, sei es an dieser Stelle gewagt, jenseits solch skrupulöser Zimmerlautstärke nun doch einmal die Werbetrommel zu rühren. Wer nämlich findet in unseren, auf konforme Ironie getrimmten Zeiten noch Kraft und Mut, ohne jegliche Larmoyanz solche Zeilen zu schreiben: "Deshalb, befiehl/ den Augen: schaut noch mal, vermesst, was ihr nicht halten/ könnt, trübt euch ein und lasst die Tränen fließen. Denn/ euer Stolz war Trübsinn, Rückzug lag in eurem Licht und bestenfalls verqueres Zaudern." Chapeau!
Besprochen von Marko Martin
Ernest Wichner: Bin ganz wie aufgesperrt. Gedichte
Verlag Wunderhorn, Heidelberg 2010
48 Seiten, 13,50 Euro