Keine leichte Kost

Von Tobias Wenzel · 29.01.2010
Für die Psyche des Menschen interessiert sich die amerikanische Schriftstellerin Siri Hustvedt schon lange. Nun hat sie ein sehr persönliches Sachbuch geschrieben, in dem sie nach einer Erklärung für jenes Zittern sucht, das sich ihrer schon mehrfach bemächtigt hat.
Wird Siri Hustvedt zittern oder nicht? So zynisch es klingen mag, unwillkürlich stellt man sich diese Frage, wenn man ihr neues Buch "Die zitternde Frau. Eine Geschichte meiner Nerven" gelesen hat und die US-amerikanische Autorin, elegant in schwarz gekleidet, im ausverkauften Düsseldorfer Schauspielhaus aus eben diesem Buch lesen hört und sieht.

Darin schildert Siri Hustvedt, wie sie im Jahr 2006, rund drei Jahre nach dem Tod ihres Vaters, einen öffentlichen Vortrag an der Universität ihres Vaters, eines Nordistik-Professors, hielt – und zu zittern begann. Dem Vater zu ehren war ein Baum gepflanzt worden:

"Selbstsicher und mit Karteikarten versehen, blickte ich über die etwa fünfzig Freunde und Kollegen, die sich rund um die Fichte versammelt hatten, öffnete den Mund zu meinem ersten Satz und begann vom Hals an abwärts zu zittern. Meine Arme zuckten. Die Knie knickten ein. Ich zitterte so stark, als hätte ich einen Krampfanfall. Komischerweise war meine stimme nicht betroffen. Verblüfft von dem, was mir geschah, und in Angst und Schrecken, ich könnte umkippen, gelang es mir, das Gleichgewicht zu wahren und weiterzureden, obwohl die Karten, die ich in der Hand hielt, vor mir hin und her wackelten."

Seitdem hat Siri Hustvedt mehrfach diese krampfartigen Zitteranfälle bei öffentlichen Vorträgen erlebt und deshalb Ärzte und Psychotherapeuten aufgesucht. Aber die konnten keine befriedigende Erklärung für ihr Symptom finden. Und so las Siri Hustvedt selbst wie eine Besessene psychiatrische, neurologische und philosophische Fachliteratur:

"Ich hatte die Idee dazu, dieses Buch zu schreiben, kurz nachdem ich meinen Roman 'Die Leiden eines Amerikaners' beendet hatte. Ich wollte dieser mysteriösen Krankheit auf die Schliche kommen und gleichzeitig die Rolle des Ermittlers und des Opfers einnehmen."

Das Buch "Die zitternde Frau" ist das Ergebnis dieser Ermittlung nach der Ursache für das unerklärliche Zittern. Ist es Epilepsie oder Hysterie? Hängt es mit dem Tod ihres Vaters zusammen? Und wenn ja, reicht dann allein die Vorstellung, über ihren toten Vater zu sprechen, um wieder diese krampfartigen Zitteranfälle zu bekommen?

Beim Schreiben des Romans "Die Leiden eines Amerikaners" verwendete die Autorin private Aufzeichnungen ihres Vaters. Als sie mit dem Buch in Deutschland auf Lesereise war, nahm sie aus Angst vor einem erneuten Zittern, Betablocker. Warum tut sie es sich dann jetzt an, mit diesem persönlichen Buch auch noch auf Lesereise zu gehen?

"Dieses Buch ist einerseits der Bericht über meine eigene Krankheit, aber vielmehr ist es ein intellektuelles Vorhaben, in dem die Mehrdeutigkeit von Diagnosen und die dazugehörigen philosophischen Grundlagen diskutiert werden. Ganz ehrlich: Ich habe überhaupt kein Interesse daran, über mich selbst zu schreiben. Ich gebrauche meine eigene Person, der ich doch recht nahe stehe, als ein Beispiel, um mich mit intellektuellen Fragen, die mich umtreiben, auseinanderzusetzen."

Ob auch die deutschen Leser, die dieses Buch tausendfach kauften, genauso wenig Interesse an Siri Hustvedt als Person haben, an der 54-jährigen, schönen Ehefrau von Paul Auster? Gewisse Stellen im Buch laden gerade zum Voyeurismus ein:

"Mein Mann (der bei der Baumzeromonie nicht dabei gewesen war) sagte mir später, er habe noch nie etwas Ähnliches gesehen. Obwohl ich ihm meinen früheren Anfall beschrieben hatte, war ihm nicht klar geworden, wie dramatisch es gewesen war. Am liebsten hätte er mich gepackt und mit Gewalt das Treppchen hinuntergetragen. [...]
Das Publikum war nett. Es klatschte. Danach kamen ein Neurologe, ein Psychiater und ein Psychotherapeut zu mir und boten mir zu meiner großen Erleichterung nicht ihre Hilfe an, sondern Überlegungen zum Inhalt meines Vortrags."

Andere Passagen sind allerdings alles andere als leichte Kost: Psychiatrische Fallstudien werden präsentiert, die Geschichte der Psychoanalyse erläutert, neue Ergebnisse aus der Hirnforschung erklärt, Philosophen wie Husserl und Wittgenstein angeführt, das Leib-Seele-Problem diskutiert. Das alles untermauert durch 192 Anmerkungen.

Siri Hustvedt: "Einem New Yorker Freund von mir, der Psychiater und Neurologe ist, habe ich das Buch gegeben. Er schrieb mir später: 'Siri, ich musste das Buch zweimal lesen, bevor ich es wirklich verstanden habe.'"
Na ja, so kompliziert ist es dann auch nicht. Siri Hustvedts "Die zitternde Frau" ist ein gut geschriebenes persönliches populärwissenschaftliches Buch, nicht mehr und nicht weniger: für Fachleute zu simpel, für den Laien recht anstrengend. Siri Hustvedts Fazit: Es gibt Krankheiten, die keine eindeutige Diagnose erlauben. Und eine dieser Krankheiten hat sie selbst:

"Das Befremdliche einer Dualität in mir bleibt, ein starkes Gefühl von einem 'Ich' und einem unkontrollierbaren Anderen. Die zitternde Frau ist natürlich nicht jemand mit einem Namen. Sie ist eine Fremde ohne Sprache, die nur während meiner Reden auftaucht."

Bleibt die anfangs gestellte zynische Frage: Werden die Besucher Siri Hustvedt auf ihrer Lesereise zittern sehen?

"Ich werde sie wahrscheinlich enttäuschen, weil ich Medikamente genommen habe."

Service: Am 1. Februar 2010 stellt Siri Hustvedt ihr Buch im Kino Babylon in Berlin vor.

Siri Hustvedt: "Die zitternde Frau",
übersetzt von Uli Aumüller und Grete Osterwald,
Rowohlt Verlag, 235 Seiten, 18,90 Euro.