Keine Bürgerlichkeit mehr, nirgends
Die jetzige Regierung nennt sich bürgerlich, ohne allerdings näher bestimmen zu können, was diese von ihr beanspruchte Qualität ausmache. Das dürfte ihr auch schwerfallen. Denn der Bürger als sozialer Typus, mit einer bestimmten Haltung und ihr gemäßen Lebensformen, ist längst verschwunden. Zu den Maximen, die ein Kaufmann einst beachtete, gehörte: Ehrlich währt am längsten, Zuverlässigkeit in den Verträgen, reelle Bedienung, bürgerliche Wohlanständigkeit, eben Solidität als Inbegriff aller Handlungen, die Kreditwürdigkeit verhießen, sofern man überhaupt als gut rechnender Geschäftsmann Kredite in Anspruch nehmen wollte.
Die Bürgerlichkeit hielt sich an viele ungeschriebene Regeln, eben an die guten Sitten und den Anstand. Was man tut oder lieber lässt – darüber gibt es keine verbindlichen Übereinkünfte mehr, sofern nicht ein Gesetz festlegt, was gerade noch erlaubt oder schon strafbar ist.
Das Gesetz tritt an die Stelle des freien, auch bürgerlichen Anstandes. In kapitalistischen Zeiten werden alle dazu angehalten, erfolgreich zu sein und ihren Vorteil wahrzunehmen: also andere im Wettbewerb um ihren Vorteil zu bringen. Im dauernden Kampf um's Dabeisein auf den Märkten zählt allein die Pfiffigkeit, Gesetzeslücken aufzuspüren und auszunutzen.
Alexis de Tocqueville beobachtete um 1835, wie sich unter solchen Voraussetzungen "eine üble Mischung von Niedrigkeit und Macht, von Würdelosigkeit und Erfolg, von Nützlichkeit und Ehrlosigkeit" ergibt. Immerhin erreichte damals die bürgerlich-kapitalistische Epoche gerade ihren Höhepunkt. Solch traurige Charakteristiken bestätigen nicht mögliche Vorurteile eines sehr vornehmen, alten Aristokraten. Der Schriftsteller Honoré de Balzac schilderte gar nicht anders die Bourgeoisie und deren "Leistungsträger", die ununterbrochen verkündeten, dass ihre Leistung sich vor allem für sie lohnen müsse.
Unterm Strich zähl' ich. Diese Einstellung brachte die Bürgerlichkeit schon damals um ihren sittlichen Kredit. In Deutschland sprach man vom Spießer, vom Philister. Studenten genossen die Semester als Ferien vom Ich, als letzte Zeit der Freiheit, bevor sie in der Tretmühle bürgerlicher Funktionstüchtigkeit zu Schlachtopfern des Fleißes in einem von sich selbst entfremdeten Dasein wurden. Die Bürger neigten am allerwenigsten dazu, ihre Welt zu poetisieren. Ihre Welt ging im Ersten Weltkrieg und in der ihm folgenden Inflation zugrunde.
Aber nicht nur der Bürger verschwand. Auch der Arbeiter, der Angestellte oder der Akademiker haben ihre ehemaligen Erkennungsmerkmale eingebüßt. Es gibt kein Heimweh nach dem Proletarier oder dem Akademiker, nach Arbeiterkultur oder sehr anspruchsvoller Bildungsbürgerlichkeit. Die Erinnerung an Bürgerlichkeit erschöpft sich heute in sozialästhethischen Arabesken: Die Braut trägt Weiß, der Bräutigam den grauen Cut und Zylinder. Gemeinsam widmen sie sich anschließend der Aufgabe, schöner zu wohnen, um im gepflegten Ambiente die Talente zum Feinschmecker umsichtig auszubilden. Deswegen braucht man unbedingt mehr Netto vom Brutto.
Die neue Bürgerlichkeit, von der wieder einmal die Rede ist, hat es gar nicht mit dem Staatsbürger und dem mündigen Bürger in der politischen Mitbestimmung zu tun. Der Bürger soll vielmehr ganz und gar zum Kunden werden auf einem Markt, dem sich alles unterordnet, auch frühere staatliche Institutionen. Das Reich der Freiheit, das gutbürgerlich früher der Staat mit seinen Gesetzen und seinem Rechtsschutz garantierte, soll nun der Markt und die Konkurrenz ermöglichen. Auf dem Markt können sich aber nur die behaupten, die ihren Marktwert kennen und ihn steigern. Sie sind gerade nicht frei, sondern müssen, um nicht als auslaufendes Modell aussortiert zu werden, sich selbst wie ein Produkt, wie eine beliebige Ware zum Verbrauch anbieten.
Der Kunde und Kreativwirtschaftler ist gar nicht König, weil ununterbrochen gehetzt, den neuesten Trend nicht zu verpassen, sich anzupassen und einzupassen. Darin erkannten Schiller und Hegel, Marx und Engels die äußerste Entfremdung des Menschen von sich selber.
Der neue Bürger soll in der Entfremdung sein Glück und seine Bestimmung finden. Hilft er doch als kritischer Verbraucher dazu, dass es wieder Wachstum gibt, weil die Binnenkonjunktur einen Aufschwung nimmt. Das ist die Verpflichtung des sich im Kunden vollendenden Menschen. Der freie Markt braucht keine freien Bürger, er braucht nur Marktbewusste, die sich seinen Zwängen fügen und das als Freiheit verstehen.
Eberhard Straub, geboren 1940, studierte Geschichte, Kunstgeschichte und Archäologie. Der habilitierte Historiker war bis 1986 Feuilletonredakteur der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" und bis 1997 Pressereferent des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft. Heute lebt er als freier Journalist in Berlin. Buchveröffentlichungen u. a. "Die Wittelsbacher", "Drei letzte Kaiser", "Albert Ballin" und "Eine kleine Geschichte Preußens" sowie "Das zerbrechliche Glück. Liebe und Ehe im Wandel der Zeit".
Das Gesetz tritt an die Stelle des freien, auch bürgerlichen Anstandes. In kapitalistischen Zeiten werden alle dazu angehalten, erfolgreich zu sein und ihren Vorteil wahrzunehmen: also andere im Wettbewerb um ihren Vorteil zu bringen. Im dauernden Kampf um's Dabeisein auf den Märkten zählt allein die Pfiffigkeit, Gesetzeslücken aufzuspüren und auszunutzen.
Alexis de Tocqueville beobachtete um 1835, wie sich unter solchen Voraussetzungen "eine üble Mischung von Niedrigkeit und Macht, von Würdelosigkeit und Erfolg, von Nützlichkeit und Ehrlosigkeit" ergibt. Immerhin erreichte damals die bürgerlich-kapitalistische Epoche gerade ihren Höhepunkt. Solch traurige Charakteristiken bestätigen nicht mögliche Vorurteile eines sehr vornehmen, alten Aristokraten. Der Schriftsteller Honoré de Balzac schilderte gar nicht anders die Bourgeoisie und deren "Leistungsträger", die ununterbrochen verkündeten, dass ihre Leistung sich vor allem für sie lohnen müsse.
Unterm Strich zähl' ich. Diese Einstellung brachte die Bürgerlichkeit schon damals um ihren sittlichen Kredit. In Deutschland sprach man vom Spießer, vom Philister. Studenten genossen die Semester als Ferien vom Ich, als letzte Zeit der Freiheit, bevor sie in der Tretmühle bürgerlicher Funktionstüchtigkeit zu Schlachtopfern des Fleißes in einem von sich selbst entfremdeten Dasein wurden. Die Bürger neigten am allerwenigsten dazu, ihre Welt zu poetisieren. Ihre Welt ging im Ersten Weltkrieg und in der ihm folgenden Inflation zugrunde.
Aber nicht nur der Bürger verschwand. Auch der Arbeiter, der Angestellte oder der Akademiker haben ihre ehemaligen Erkennungsmerkmale eingebüßt. Es gibt kein Heimweh nach dem Proletarier oder dem Akademiker, nach Arbeiterkultur oder sehr anspruchsvoller Bildungsbürgerlichkeit. Die Erinnerung an Bürgerlichkeit erschöpft sich heute in sozialästhethischen Arabesken: Die Braut trägt Weiß, der Bräutigam den grauen Cut und Zylinder. Gemeinsam widmen sie sich anschließend der Aufgabe, schöner zu wohnen, um im gepflegten Ambiente die Talente zum Feinschmecker umsichtig auszubilden. Deswegen braucht man unbedingt mehr Netto vom Brutto.
Die neue Bürgerlichkeit, von der wieder einmal die Rede ist, hat es gar nicht mit dem Staatsbürger und dem mündigen Bürger in der politischen Mitbestimmung zu tun. Der Bürger soll vielmehr ganz und gar zum Kunden werden auf einem Markt, dem sich alles unterordnet, auch frühere staatliche Institutionen. Das Reich der Freiheit, das gutbürgerlich früher der Staat mit seinen Gesetzen und seinem Rechtsschutz garantierte, soll nun der Markt und die Konkurrenz ermöglichen. Auf dem Markt können sich aber nur die behaupten, die ihren Marktwert kennen und ihn steigern. Sie sind gerade nicht frei, sondern müssen, um nicht als auslaufendes Modell aussortiert zu werden, sich selbst wie ein Produkt, wie eine beliebige Ware zum Verbrauch anbieten.
Der Kunde und Kreativwirtschaftler ist gar nicht König, weil ununterbrochen gehetzt, den neuesten Trend nicht zu verpassen, sich anzupassen und einzupassen. Darin erkannten Schiller und Hegel, Marx und Engels die äußerste Entfremdung des Menschen von sich selber.
Der neue Bürger soll in der Entfremdung sein Glück und seine Bestimmung finden. Hilft er doch als kritischer Verbraucher dazu, dass es wieder Wachstum gibt, weil die Binnenkonjunktur einen Aufschwung nimmt. Das ist die Verpflichtung des sich im Kunden vollendenden Menschen. Der freie Markt braucht keine freien Bürger, er braucht nur Marktbewusste, die sich seinen Zwängen fügen und das als Freiheit verstehen.
Eberhard Straub, geboren 1940, studierte Geschichte, Kunstgeschichte und Archäologie. Der habilitierte Historiker war bis 1986 Feuilletonredakteur der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" und bis 1997 Pressereferent des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft. Heute lebt er als freier Journalist in Berlin. Buchveröffentlichungen u. a. "Die Wittelsbacher", "Drei letzte Kaiser", "Albert Ballin" und "Eine kleine Geschichte Preußens" sowie "Das zerbrechliche Glück. Liebe und Ehe im Wandel der Zeit".