Keine bitteren Pillen

Von Stephanie Kowalewski |
Das Kind ist krank, der Arzt hat ein entsprechendes Medikament verordnet, doch der kleine Patient weigert sich strikt, den Saft zu schlucken. Das könnte auch daran liegen, dass ein Teil der verfügbaren Medikamente nicht speziell für Kinder hergestellt wird. Das soll sich nun ändern - auch dank einer EU-Verordnung.
Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Und doch sind sie, wenn sie krank sind, auf Medikamente angewiesen, die nur an Erwachsenen getestet wurden, sagt Thomas Meissner, Oberarzt an der Universitäts-Kinderklinik in Düsseldorf.

"Etwa 20 Prozent der Medikamente, die auf dem Markt sind, sind in Studien getestet für Kinder und stehen damit dann Kindern zur Verfügung. Alle anderen Medikamente kann man bei Kindern eigentlich nur einsetzten, ohne dass eine Zulassung vorliegt für Kinder und ohne dass wir genau über Nebenwirkungsprofile zum Beispiel bei Kindern bescheid wissen."

Exakte und aktuelle Studien gibt es zwar nicht, aber Experten gehen davon aus, dass bis zu 80 Prozent der Pillen und Säfte, die Kindern verordnet werden, nicht für die Behandlung von Kindern zugelassen sind. Das kann ein großes Problem für die jungen Patienten sein und auch für die behandelnden Ärzte.

"Wir rechnen natürlich die Dosierung runter, schauen, was ein Kind an Dosis wohl brauchen wird. Aber natürlich sind Kinder keine kleinen Erwachsenen und brauchen in jedem Fall eigene Arzneimittelstudien damit man weiß, was man eigentlich macht, wenn man diese Medikamente bei Kindern einsetzt."

Denn Leber und Niere von Neugeborenen und Säuglingen arbeiten langsamer als bei Erwachsenen, bauen die Arzneistoffe also in der Regel auch langsamer ab, was zu einer Überdosierung führen kann. Sind die Ärzte hingegen zu vorsichtig, können die Kinder zu wenig des Wirkstoffs bekommen. Um diese Situation zu ändern hat die Europäische Union vor drei Jahren ein entsprechendes Gesetz verabschiedet, sagt Jörg Breitkreutz, Professor für Pharmazeutische Technologie an der Düsseldorfer Universität.

"Und diese neue Gesetzgebung sagt aus: das Pharmazeutische Unternehmen muss sich für alle neuen Arzneistoffe überlegen, wie sie bei Kindern aller Altersgruppen dieses Arzneimittel anwendbar machen können.""

Neue Arzneimittel müssen nun also auch in einer kinderfreundlichen Variante zur Verfügung gestellt werden, ansonsten bekommt das Medikament keine Zulassung - auch keine für die Behandlung von Erwachsenen. Dabei spielt der Geschmack der Medikamente eine erhebliche Rolle, sagt der Kinderarzt Thomas Meissner.

"Wir haben immer wieder die Situation, dass Eltern zu uns kommen und sagen, das verordnete Medikament wird vom Kind nicht genommen. Das schluckt das nicht, das spuckt das wieder aus. Und wir möchten natürlich ein Medikament in der vorordneten Dosis dann auch letztendlich zuführen. Wenn die Hälfte dessen wieder ausgespuckt wird, ist das natürlich nicht gut."

Kinder mögen einfach keine bitteren Dinge, was äußerst sinnvoll ist, denn viele in der Natur vorkommende Giftstoffe schmecken bitter. Doch das gilt eben auch für Pillen, Säfte und Co., sagt Jörg Breitkreutz.

"Viele Medikamente schmecken bitter, weil der Arzneistoff bitter schmeckt. Was bei den Erwachsenen vielleicht gewünscht ist, damit die Erwachsenen damit auch eine Wirkung verbinden, ist es bei den Kindern, vor allem bei den ganz kleinen Kindern, unerwünscht und deswegen müssen wir Maßnahmen treffen, um diesen bitteren Geschmack in irgendeiner Form zu maskieren."

So mischen die Arzneimittelhersteller dem Medikament beispielsweise Süß- oder Aromastoffe bei, die den bitteren Geschmack überlagern. Doch ob die Rezeptur Kindern tatsächlich schmeckt, lässt sich nicht von Erwachsenen testen, denn sie haben gelernt, Bitterstoffe zu tolerieren oder gar schmackhaft zu finden. In Europa dürfen Medikamente jedoch – anders als in den USA – nur von erkrankten Kindern getestet werden. Ein Problem, sagt der Pharmatechnologe.

"Diese erkrankten Kinder werden bei einer neuen Arzneimittelentwicklung ja erst sehr spät in die entsprechenden Untersuchungen mit einbezogen, nämlich dann, wenn das Medikament fast fertig ist."
Lehnen die Kinder in der Studie das neue Arzneimittel dann ab, muss von vorne begonnen werden. Das kostet Zeit und viel Geld. Da kommt jetzt die elektronische Zunge ins Spiel. Eine elektronische Zunge ist ein Analysegerät, das zwar nicht wie eine Zunge aussieht, aber das den menschlichen Geschmackssinn elektronisch imitieren soll, erklärt Jörg Breitkreutz.

"Ja, das Gerät besteht im Prinzip aus einem Roboterarm. An diesem Roboterarm hängen mehrere einzelne Sensoren. Jeder dieser Sensoren hat andere Eigenschaften. Zum Beispiel steht ein Sensor für den Bittergeschmack, einer für den Salzgeschmack, für den Süßgeschmack usw. Und diese Sensoren tauchen jetzt in die Messlösung ein, für etwa 30 Sekunden, und wir können dann nachher im Computer die gemessenen Daten auswerten."

Die elektronische Zunge schmeckt also nicht, sondern sie misst, in welchem Maße die Substanz bitter, sauer oder süß ist. Und das objektiv, unbestechlich und reproduzierbar. Die Hersteller wissen so, ob die Rezeptur den bitteren Grundgeschmack der Arznei ausreichend maskiert hat oder ob nachgebessert werden muss. Erst wenn die Messdaten der elektronischen Zunge belegen, dass die Medizin den Geschmack der Kinder trifft, wird das neue Medikament tatsächlich von den jungen Patienten getestet.

Doch noch ist die elektronische Zunge kein Standartverfahren. Die Pharmazeuten der Düsseldorfer Universität arbeiten mit den japanischen und französischen Herstellern der Geräte eng zusammen, um weitere Sensoren zu entwickeln und die elektronische Zunge dem menschlichen Organ immer ähnlicher werden zu lassen.

"Aber das ist noch ein ganz weiter Weg. Da sind wir noch ganz weit von weg."

Doch schon jetzt profitieren nicht nur die Arzneimittelhersteller von der neuen Technologie, sondern vor allem die jungen Patienten, ist Kinderarzt Thomas Meissner überzeugt.

"Ich finde, es eine sehr gute Idee, dass man dort erst einmal so ein Vorscreening machen kann, vorfiltern kann, viele Medikamente ausprobierten kann. Und wenn man dann eine gute Rezeptur gefunden hat, dass man die dann bei Kindern einsetzt, und dann vielleicht mit weniger Studien, mit weniger Untersuchungen, mit weniger Probanden dann ein gut schmeckendes Medikament herstellen kann."