Keine Bildung ohne Leistung

Von Jürgen Kaube |
Wir erleben derzeit neue Angriffe auf das Gymnasium, die in zweierlei Form vorgetragen werden: Entweder man plant, wie Andrea Ypsilanti in Hessen, das Gymnasium ganz abzuschaffen. Oder man höhlt seine Grundlagen aus.
Wie das gehen kann, sieht man jetzt in Berlin. Dort hat die rot-rote Regierung beschlossen, ab 2010 das Abitur um fünf Prozent zu verbilligen. Bislang fiel durch, wer nicht mindestens die Hälfte der erreichbaren Leistungspunkte erzielte. Ab 2010 sollen es dann schon 45 Prozent tun. Alle Noten werden entsprechend nach unten angepasst. Für die naturwissenschaftlichen Fächer und für Mathematik sollen die ermäßigten Tarife schon bei den nächsten Abiturprüfungen gelten, alle anderen Fächer ziehen in zwei Jahren nach.

Angeblich geschieht dies, um ein gemeinsames Zentralabitur von Berlin und Brandenburg vorzubereiten. In Brandenburg wird schon länger nach jenen abgesenkten Leistungsstandards benotet. Auch in Bayern, so wird die Maßnahme verteidigt, bekomme man die "1 plus" ja schon mit 95 Prozent der Höchstpunktzahl. Da sei es doch ungerecht, wenn Berliner Schüler anders behandelt würden.

So versucht man die Bürger für dumm zu verkaufen. Denn jedes Kind weiß, wie viel schwerer es ist, in Bayern Abitur zu machen als in Berlin. Und dass bei einem gemeinsamen Zentralabitur mit Brandenburg für beide Länder auch die bislang strengeren Kriterien Berlins hätten eingeführt werden können, liegt auf der Hand. Es wäre dazu allerdings die Entschlossenheit nötig, Leistung zu honorieren. Aber nein, im Zweifel erfolgt die Anpassung der Erziehungsstandards lieber nach unten. Mehr Schüler, das ist die Absicht, sollen in kürzerer Zeit mit immer besseren Noten das Abitur erhalten, ohne dass aber in die Schulen mehr investiert würde als eine wohlfeile Rhetorik der "Bildung für alle".

Und das geht – nicht zuletzt bei steigendem Migrantenanteil - eben nur, indem man die Hürden senkt. Diese Aufweichung der Standards fing unter dem Titel "mehr Wahlfreiheit" bei der Aufwertung von Nebenfächern an, sie ging in Form der Abwählbarkeit von Hauptfächern weiter und tritt jetzt ganz offen als willkürliche Veränderung der Notenskala hervor. Bildung für alle, das hört sich gut an - aber was für eine Bildung es ist, interessiert die Bildungsverwaltungen nur sekundär. Wichtiger als das Wachstum der Kenntnisse ist das Wachstum der Absolventenzahlen.

Um einen Angriff auf das Gymnasium handelt es sich dabei, weil am Ende ein Abitur in Sicht ist, das auch ohne gymnasiale Bildung erlangt werden kann. Das entspricht der Sicht aufs Gymnasium, die seine Verächter seit langem haben: dass es nicht in erster Linie eine bestimmte Art von Erziehung vermittelt, sondern dass es vor allem ein gesellschaftliches Privileg darstellt.

Merkwürdigerweise gibt es derzeit aber fast niemanden, der nicht möchte, dass seine Kinder aufs Gymnasium kommen. Anders als Gesamtschulen können sich die Gymnasien kaum retten vor Bewerbern. Sofern sie Kinder haben, schicken übrigens auch die Bildungsreformer ihre Kinder dorthin. Andrea Ypsilantis Sohn etwa geht auf ein Privatgymnasium mitten in Frankfurt, was ihm wirklich von Herzen vergönnt sei. Denn es handelt sich, nach allem was man weiß, um eine gute Schule. Aber seiner Mutter sei das Argument nicht vergönnt, die Gymnasien gehörten als bürgerliche Bastionen abgeschafft.
Denn das ganze Gerede von der Elite, die sich im Gymnasium eine eigene Schulform geschaffen habe, ist absurd. Mehr als ein Drittel aller Kinder eines Jahrganges geht inzwischen dorthin. Eine Elite, die ein Drittel der Bevölkerung umfasst – was soll man sich darunter vorstellen? Tatsächlich handelt es sich dort um ziemlich normale, ziemlich unelitäre Verhältnisse.
Woran gute Gymnasien vielmehr arbeiten, ist die Sicherung eines Leistungsniveaus. Irgendwo in der Gesellschaft sollte es einen Ort geben, an dem man die Differentialrechnung, die Romane Theodor Fontanes, die organische Chemie und die französische Sprache kennen lernen kann. Nicht, weil das die betreffenden Schüler besser auf den Weltmarkt oder auf Karrieren vorbereitet, sondern weil es sie klüger macht.
Irgendwo in der Gesellschaft sollte es darum auch einen Ort geben, an dem geprüft wird, was jemand zu leisten vermag. Wenn am Ende alle dasselbe Zertifikat haben, zum Beispiel das Abitur, dann informiert dieses Zertifikat niemanden mehr. Wer lieber den Standard senkt, als damit zu leben, dass ihn nicht alle erreicht haben, belügt sich darum selbst – und betrügt nicht zuletzt diejenigen, denen vorgemacht wird, es gehe auch ohne Leistung. Wenn Prüfungen nur noch bestanden werden können, sind sie keine mehr.

Jürgen Kaube, geboren 1962, studierte Wirtschaftswissenschaften, Philosophie, Germanistik sowie Kunstgeschichte an der Freien Universität Berlin und war Hochschulassistent für Soziologie an der Universität Bielefeld. Seit 1998 ist er Redakteur im Feuilleton der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", wo er für Fragen der Bildung, Wissenschafts- und Gesellschaftspolitik zuständig ist.