Keine Begegnung auf Augenhöhe

19.05.2010
Seit kaum einem halben Jahrhundert gibt es arabische Romane von Frauen. Mittlerweile zählen sie zum Besten, was die arabische Literatur zu bieten hat. Der Roman "Marjams Geschichten" der 1955 geborenen Libanesin Alawiyya Sobh ist einer der schonungslosesten seiner Art.
Erzählt wird von den vier Freundinnen Marjam, Alawiyya, Jasmin und Ibtisam, aber auch von deren weiterer Familie, vor allem den Müttern. Auf die brutalste Weise in die Moderne geschleudert, zermalen von der Weltgeschichte, der großen Hungersnot im Ersten Weltkrieg, und 15 Jahren Bürgerkrieg, deren Verlauf sie von Revolutionärinnen mit dem Gewehr in der Hand zu Wesen macht, die ein letztes Heil nur noch in der Religion finden.

Das Besondere des Buchs, so flüssig es sich liest, ist vielleicht nicht einmal primär literarischer Natur, sondern liegt im selbst für den mitteleuropäischen Gegenwartsleser schmerzhaften Einblick in die intimsten Zonen der Figuren, in die qualvollen Mechanismen ihrer Selbstbilder und Verirrungen, in den stets triebgesteuerten Unterbau dieser Gesellschaft.

Für die Frauen, von denen hier erzählt wird, ist der Mann nur um den Preis der Erniedrigung wirklich zu haben. Eine Begegnung auf Augenhöhe findet paradoxerweise nur dort statt, wo sie gesellschaftlich geächtet ist, im Seitensprung, im vorehelichen Sex oder in der unmöglichen Liebe zwischen Muslimen und Christen.

Marjam schläft regelmäßig mit dem verheirateten Abbas, Ibtisam hat eine echte Liebesbeziehung zu dem Christen Karim. Er geht als Gastarbeiter nach Saudi-Arabien und Ibtisam wartet. Mitten während der israelischen Belagerung (Sommer 1982) kehrt er überraschend zurück, schläft zum ersten Mal mit ihr, die noch Jungfrau ist, nur um ihr anschließend zu verkünden, dass er in sein Dorf fährt, um dort eine Christin zu heiraten.

Dschalal, den sie dann heiratet, akzeptiert zwar, dass sie keine Jungfrau mehr ist, aber als sie beim Fernsehen einen Schauspieler lobt, nennt er sie Flittchen. Der Psychoterror beginnt, und am Ende lebt Ibtisam all die bürgerlichen Konventionen und Verlogenheiten, die sie als junge Frau so sehr verachtete. Auch Jasmin, einst nicht weniger revolutionär, fürchtet sich nach ihrer Heirat plötzlich vor allem, was den Ruch den Unkonventionellen hat und verfällt – diesmal freilich zum Verdruss ihres Manns – der modischen neoislamischen Religiosität.

Der Bürgerkrieg (1975 bis 1990) hat seinen Anteil an diesem Verfall, gewiss. Aber dort kulminiert er nur. Die Ursachen liegen tiefer, sind im Intimen, Privateren angesiedelt. Alawiyya Sobh meißelt sie aus den Steinbrüchen der Biografien ihrer Heldinnen nach und nach heraus.

Am Beispiel von Marjams Mutter wird die Gewalt bis zu ihren Wurzeln in Familie und Sexualität zurückerzählt. Im Alter von zehn an einen unreifen Jungen verheiratet, kennt sie die Sexualität nur als Form der Gewalt, wird 18-mal schwanger und rächt sich im Alter an ihrem Mann, indem sie ihn nach Strich und Faden bloßstellt – und ihre Töchter aufs Gymnasium schickt. Die Erfahrung des häuslichen Hasses, von allen Freundinnen mehr oder weniger geteilt, ist nicht nur eindrücklich und manchmal verzweifelt komisch zu lesen. Indem es davon redet, wird das Buch vielmehr auch zu einem Fanal, das erahnen lässt, was einer Gesellschaft blüht, in deren Familien sich der Virus der Gewalt flächendeckend eingenistet hat.

Besprochen von Stefan Weidner

Alawiyya Sobh: Marjams Geschichten
Aus dem Arabischen von Laila Chammaa
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010
475 Seiten, 34,00 Euro