Keine Angst vor neuen Wegen

Von Geert Müller-Gerbes |
Große Koalition. Alle reden davon und keiner weiß genau, was das eigentlich ist. Ist das eine Koalition der wirklich großen? Der großen Parteien? Eher nicht, denn aus Not und mangels Alternative haben sich die geschrumpften ehemals großen Volksparteien geradezu zwanghaft zusammengefunden, auf Gedeih und Verderb und noch dazu zum Erfolg verdammt. Eine große Koalition steht uns wohl eher in Bezug auf die Erwartungen ins Haus, die an die neue Regierung gestellt sind. Die sind wahrlich groß, fast übermenschlich.
Wir blättern zurück. Schon einmal, l966, gab es eine Bundesregierung mit Hilfe einer großen Koalition. Aber welch ein Unterschied. Damals, vor fast vierzig Jahren, ging es der SPD darum, nach beinahe zwei Jahrzehnten Opposition in Bonn endlich den Nachweis zu erbringen, dass sie regierungsfähig sei. Herbert Wehner hatte bei dem alten Adenauer schon jahrelang vorgefühlt, die SPD hatte ihren Frieden mit den Kirchen gemacht, ihren Frieden mit dem Kapitalismus und sogar die Kröten Bundeswehr und NATO geschluckt. Die SPD hatte ihr Ziel erreicht, sie war in der Regierung und folgerichtig wurde drei Jahre später Willy Brandt Bundeskanzler.

Und Heute?

Die SPD muss ihre Regierungsfähigkeit nicht mehr beweisen, im Gegenteil: Die Aufstellung ihrer Ministerriege für die Regierung der nächsten vier Jahre verlief meisterlich glatt. CDU und vor allem CSU dagegen taten sich schwer, mit der Aufstellung ihres Personals Vertrauen in ihre Regierungsfähigkeit zu erzeugen.

Und noch eines: Damals, vor vierzig Jahren, sah sich die Bundesregierung in Bonn einer lächerlich kleinen und unbedeutenden Opposition in Gestalt der FDP gegenüber. Das war ihr Vorteil und Nachteil zugleich.
Heute dagegen bläst der künftigen Regierung ein kräftiger Oppositionswind ins Gesicht – fast ein Drittel aller Abgeordneten des Bundestages geben ihr aus unterschiedlichen Richtungen Zunder.

Was also ist hier groß?

Groß sind einerseits die Erwartungen. In Jahrzehnten gewachsene und gewucherte Verkrustungen der alten Bundesrepublik und der ehemaligen DDR müssen endlich überwunden und bereinigt werden. Dazu ist Parteiengezänk wie in den vergangenen Jahren der gegenseitigen Blockadepolitik nicht geeignet.

Die ehemals großen Volksparteien sind gezwungen, gemeinsam nach Wegen zu suchen und sie auch zu benutzen, Deutschland aus der Schlusslichtposition eines zerwalteten politischen Zwerges herauszuholen.

Diese geplante so genannte große Koalition muss das Versäumte nachholen, was hätte geschafft werden können, wäre sie schon unmittelbar nach der Wende l989 begründet worden.

Groß sind andererseits auch die Hoffungen an diese Regierung. Es möge gelingen, die offene und heimliche Verachtung zu überwinden, die die politische Klasse bei sehr vielen Menschen genießt.
Politik ist für zu viele Bürger dieses Landes zum dreckigen Geschäft verkommen. "Politiker" gilt fast schon als Schimpfwort.

An der Spitze dieser Regierung aus Sozialdemokraten und Union wird zum ersten Mal seit Menschengedenken eine Frau stehen.

Na und?

Wer Angela Merkel aus persönlichem Erleben und Streiten kennt, der weiß um ihre hohe Intelligenz, ihren scharfen Verstand und ihr neugieriges Misstrauen. Wer glaubt, hier handele es sich um ein noch nicht wach geküsstes Dornröschen, der irrt.

Sie wird, um ein Bild aus der Physik zu nehmen, die eindimensionale große Koalition von l966 in ein dreidimensionales Projekt " Zukunft Deutschland" verwandeln. Dabei wird es ihr und allen anderen Beteiligten gelingen müssen, die Union in ihrem Wunsch des alles oder nichts auszubremsen und die SPD daran zu hindern, in sozialromantische Nostalgien zurückzufallen.

Eine Aufgabe, die wahrhaft Herkules-Charakter hat. Dabei ist es völlig gleichgültig, ob Herkules männlich oder weiblich ist. Hauptsache, der Stall wird ausgemistet.


Geert Müller-Gerbes stammt aus Jena in Thüringen (18.9.1937 geboren) und hat Geschichte, Soziologie und Jura an der Freien Universität Berlin studiert. Seit 1958 ist er journalistisch tätig u.a. für den Berliner "Tagesspiegel", RIAS Berlin und den Sender Freies Berlin. Von 1969 bis 1974 war Müller-Gerbes Pressereferent von Bundespräsident Gustav Heinemann und anschließend Sprecher des Bundesministeriums für Jugend, Familie und Gesundheit. Müller-Gerbes moderierte u.a. bei RTL die erfolgreiche satirische TV-Verbrauchersendung "Wie Bitte?" und die "WDR-Talkshow". Er wurde mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse, dem Verdienstorden des Großherzogtums Luxemburg und der Goldenen Kamera ausgezeichnet.