Kein Vorbild?

Von Christoph von Marschall |
Joschka Fischer hat derzeit mehr als genug Probleme – auch solche, die ihn sein Amt kosten könnten wie die Visa-Affäre. Da wundert es schon, dass sich dieser erfahrene Politiker ohne Not weitere Konflikte einhandelt, wie den Streit um die Nachrufe.
Gewiss, das ist keine Staatsaffäre. Diese Behauptung mancher Streithähne und Kommentatoren, hier gehe es um das Ansehen der Bundesrepublik, hat etwas Aufschneiderisches an sich. Sie reden von ihrer eigenen Bedeutung, nicht der der Sache. Ob verstorbener deutscher Diplomaten in dem internen Blättchen des Auswärtigen Amtes überhaupt gedacht wird und ob ehrend oder nicht, das ist nun wirklich nicht weltbewegend. Vermutlich haben die meisten Deutschen bisher gar nicht gewusst, dass es "internAA" überhaupt gibt. Vom Ausland, wo angeblich der Schaden eintritt, ganz zu schweigen.

Ob die Politik des Außenministers – oder seiner Kontrahenten – dem Land nützt oder schadet, entscheidet sich an größeren Fragen: dem EU-Beitritt der Türkei, dem Verhältnis zu Amerika, dem vehementen Streben nach einem Sitz im UNO-Sicherheitsrat.

Öffentliche Aufmerksamkeit genießt die Nachrufe-Frage nur, weil Fischers Autorität angeschlagen ist: durch die Visa-Affäre. Und den Zweifel, ob er dem Kanzler in großen außenpolitischen Fragen wie dem Waffenembargo gegen China noch standhalten kann. Der Aufstand im Auswärtigen Amt taugt also eher als Gradmesser, wie unzufrieden altgediente Diplomaten mit ihrem Chef sind – und wie sie seine politische Zukunft beurteilen. Denn mal ehrlich, auch dieses Ministerium ist bisher nicht gerade dadurch aufgefallen, dass die Beamten massenhaft Zivilcourage ohne Rücksicht auf die eigene Karriere bewiesen, sobald sie die Politik des Chefs für falsch befanden.

Der Kern des Gedenkstreits reicht tiefer, als der öffentliche Streit. Darin bündeln sich Gewissensfragen für den Umgang der Deutschen mit ihrer Geschichte. Wessen Andenken hält man hoch – und warum? Wer gilt als unehrenhaft – und wieso? Was sind Vorbilder, was abschreckende Beispiele?

Siegfried Lenz hat darüber einen ganzen Roman geschrieben, "Das Vorbild", 1973 veröffentlicht. Drei Pädagogen sollen sich für ein Schulbuchkapitel auf ein Vorbild einigen. Der Pensionär Pundt, Kriegsgeneration, schlägt einen Wachposten vor, der im Krieg Flüchtlinge versteckte. Der Junglehrer Heller, ein 68er, einen Schiffsarzt, der gegen seinen opportunistischen Vater aufbegehrt. Die Lektorin Süßfeldt votiert für die Mutter eines gesuchten Sträflings im Kampf zwischen Mutterliebe und Verantwortung. Alle diese Vorschläge werden bei Lenz verworfen, weil diese "Vorbilder" auch dunkle Seiten haben.

Womit wir beim Auswärtigen Amt wären. Fischer hatte gute Gründe, die Praxis des "ehrenden Nachrufs" zu ändern. Die fragte wenig danach, welche Rolle verstorbene Diplomaten im Dritten Reich gespielt haben. Drei Beispiele für eine fragwürdige Tradition:

Da ist Franz Nüsslein, der als Vertrauter von Heydrich, Hitlers Statthalter in Böhmen, an Todesurteilen beteiligt war. Deshalb kam er nach dem Krieg zehn Jahre in ein tschechisches Straflager. Das Amt nahm ihn dennoch wieder auf und ermöglichte ihm eine Nachkriegskarriere als Generalkonsul in Francos Spanien.

Da ist andererseits Fritz Kolbe, der unter Lebensgefahr Dokumente über den Völkermord in Auschwitz in die Schweiz brachte, um die Alliierten wachzurütteln. Das Amt sah in ihm nach dem Krieg einen "Verräter" und verweigerte ihm die Wiedereinstellung. Fischer hat Fritz Kolbe rehabilitiert.

Der dritte Fall ist nicht so eindeutig, an ihm entzündete sich der Protest gegen Fischers Verdikt, wer NSDAP-Mitglied war, bekomme kein ehrendes Andenken. Franz Krapf war nicht nur in der NSDAP, sondern sogar in der SS, seit 1933 – was er lange verschwieg. Er stieg über Jahre in deren Sicherheitsdienst auf, sodass man kaum von einer Jugendsünde reden kann. Einerseits. Andererseits wirft niemand Krapf vor, dass er an Verbrechen beteiligt war. Er verbrachte die Kriegsjahre als Diplomat in Asien. Nach dem Krieg wurde Krapf zu einem der angesehensten Botschafter der Bundesrepublik. Er setzte Brandts Ostpolitik mit durch. Weshalb 128 Kollegen eine ihn ehrende Zeitungsannonce schalteten, als Fischer ihm das interne Andenken verweigerte.

Man könnte sagen, Krapf hat aus seinen Fehlern gelernt – und sie tatkräftig korrigiert. Merkwürdig, dass ausgerechnet Fischer das nicht berücksichtigen will. Er nimmt dieses Recht doch für sich selbst in Anspruch. Er habe sich vom Straßenkämpfer, der Polizisten verprügelte, zum verantwortungsbewussten Außenpolitiker gewandelt.

Aus Fehlern lernen, den Verbrechen des Dritten Reiches eine verantwortungsbewusste Politik entgegensetzen - das ist die eigentliche Gründungsgeschichte der Bundesrepublik. Wer diesen Maßstab erfüllt und wer nicht, das kann man nur im Einzelfall entscheiden, nicht pauschal anhand oberflächlicher Merkmale wie der NSDAP-Mitgliedschaft. Nach diesem falschen Grundsatz müsste Fischer selbst seinem berühmtesten Vorgänger das ehrende Andenken verweigern. Hans-Dietrich Genscher war als Pimpf der Hitlerjugend in die Partei gekommen. Deutschland kann trotzdem stolz auf ihn sein.

Dr. Christoph von Marschall, 1959 in Freiburg/Breisgau geboren, studierte osteuropäische Geschichte und Politikwissenschaft in Freiburg, Mainz und im polnischen Krakau. Promoviert 1988, volontierte er anschließend bei der "Süddeutschen Zeitung" und war dann während des demokratischen Umbruchs Korrespondent in Ungarn. Seit 1991 ist Christoph von Marschall beim "Tagesspiegel" in Berlin; er betreut als Leitender Redakteur die Meinungsseite.