Kein reduziertes kindliches Universum

Rezensiert von Barbara Wahlster · 24.11.2005
Von außen betrachtet lebt Jimhi in Eun Heekyungs Roman "Ein Geschenk des Vogels" wie ein gewöhnliches Mädchen im Korea der 60er Jahre: Sie geht zur Schule und hilft der Großmutter bei der Hausarbeit, sie verliebt sich und bekommt ihren ersten BH. Das klingt so gewöhnlich wie harmlos, ist es aber nicht. Denn Jinhi simuliert nur das Leben einer normalen Zwölfjährigen.
Ende der 60er Jahre steckt Südkorea mitten im Kalten Krieg und in heftigen politischen Verwerfungen wegen einer geplanen Verfassungsänderung zur Verlängerung der Amtszeit des Präsidenten. Das Land ist überaus arm, so dass in den Schulen die Einhaltung von Nicht-Reis-Tagen streng kontrolliert wird.

Gleichzeitig schreitet die Modernisierung auch aufgrund des amerikanischen Einflusses rasant voran. Das sind die Außenbedingungen, die hineinragen in das Leben der zwölfjährigen Jinhi. Da ihre Mutter früh verstorben ist, lebt sie mit Onkel und Tante im Haushalt ihrer Großmutter. Unterschiedliche Mietparteien gruppieren sich um den Hof, auf dem sich das Leben wie auf einer Bühne abspielt: kleine Lügen und große Ehedramen, Eifersüchteleien, Angebereien und Mutter-Sohn-Konflikte. Hier, wo alle unter den Blicken der anderen agieren, lernt Jinhi die Winkelzüge des Alltäglichen. Wie im Schnelldurchgang erfährt sie, wie sich Selbstsucht inszeniert, wann sich Hinterhältigkeiten auszahlen, wie Schmerz aussieht. Denn vor allem will sie vermeiden und kühlen Kopf bewahren – anders als ihre so typisch weibliche Tante.

Selbstbewusst, aufgeweckt und überaus urteilsfreudig führt sie die Leser durch diese Welt, teilt ihre Gedanken mit: naiv und ausgefuchst und unbestechlich in dem Versuch, sämtliche Motive der anderen zu sezieren und ihnen, wenn nötig, zuvorzukommen, nicht nur mit liebenswerten Aktionen. Die Autorin führt uns kein reduziertes kindliches Universum vor Augen, sondern eine beunruhigende Welt, die die Phantasie der Heldin herausfordert und nach grundsätzlichen Antworten, nach einer Haltung verlangt.

Auf dem Experimentierfeld ihres Lebens agiert Jinhi einerseits ihrem Alter angemessen, sucht sexuelle Informationen in Büchern und Zeitschriften, verliebt sich unglücklich in einen Studenten aus Seoul. Gleichzeitig verfolgt sie ein rigides Selbsterziehungsprogramm und das heißt: Distanzierung, sich nicht hineinreißen lassen in den Strudel des Lebens. Dazu hat Jinhi die Methode "teilnehmende Beobachtung" gewählt - in ihren eigenen Worten: die Aufspaltung "in ein sichtbares und ein sehendes Ich". Damit endet ihr Erziehungsprojekt und schafft die Voraussetzung, eine moderne, selbstbestimmte und nicht von den Vorgaben der anderen abhängige Frau zu werden.

Ihr begegnen wir in den 90er Jahren in der Rahmenhandlung des Anti-Entwicklungsromans, erwachsener zwar, weil sie grundsätzlichen Fragen nicht ausweicht. Doch auch skeptischer, zynisch und sehr realitätstüchtig. Das Innenleben einer weiblichen Hauptfigur war bis in die 90er Jahre in Korea nicht literaturwürdig – und damit auch nicht die Befragung der in Traditionen gefangenen Frauenrolle. Doch bereits in den 60er Jahren deuteten sich die Risse an. Eun Heekyung fängt sie in minutiösen Beschreibungen ein, verwebt die große Geschichte mit den brüchig werdenden Leben ihrer verschiedenen weiblichen Charaktere. Mit ihrem ersten, 1995 erschienen Roman "Ein Geschenk des Vogels", wurde die Autorin zu einem Shooting Star der koreanischen Literaturszene. Für weitere 5 Romane und viele Erzählbände erhielt die 1959 geborene Eun Heekyung zahlreiche Literaturpreise.


Eun Heekyung: Ein Geschenk des Vogels, Roman aus dem Koreanischen und mit einem Nachwort von Inwon Park und Anja Michaelsen,
Pendragon Verlag Bielefeld, 2005