"Kein Quäntchen neuer Informationen"

Moderation: Marie Sagenschneider · 26.04.2007
Gerd Koenen, Historiker und Publizist, sieht in den Äußerungen des früheren Terroristen Peter-Jürgen Boock keinen Informationsgewinn. Die am Mittwoch ausgestrahlte Sendung, in der Michael Buback mit Boock sprach, bezeichnete er als "eine eher gespenstische Veranstaltung", zumal Boock dem Fernsehen den Vortritt vor der Bundesanwaltschaft gelassen habe.
Sagenschneider: Opfer und Täter im Fernsehen, was trägt das tatsächlich zur Aufklärung und Aufarbeitung bei. Darüber wollen wir nun mit dem Historiker und Publizisten Gerhard Koenen sprechen, er hat mehrere Bücher zum Thema Rote Armee Fraktion verfasst, u.a. "Das rote Jahrzehnt – unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967–1977". Guten Morgen, Herr Koenen!

Koenen: Guten Morgen.

Sagenschneider: Sie haben sich die Sendung gestern angeschaut – fanden Sie es in irgendeiner Weise lehrreich?

Koenen: Nein, ich fand das eher eine gespenstische Veranstaltung. Es ist ja kein Quäntchen neuer Informationen herausgekommen. Wenn man bedenkt, dass Herr Boock sich in den Tagen vor der Sendung bei der Bundesanwaltschaft, die ja die Ermittlungen führt, erst mal krankgemeldet hat, damit das Fernsehen den Vortritt hat, dann ist das schon in sich gespenstisch. Ich habe Herrn Boock auch schon in Gegenüberstellung bei Pfarrer Fliege mit der Frau des ermordeten Fahrers von Schleyer gesehen, da war er eindrucksvoller.

Sagenschneider: Ja, da ist die Bundesanwaltschaft ja auch ziemlich sauer, dass Boock sozusagen durch die Medien gereicht wird und den Termin bei der Bundesanwaltschaft noch nicht wahrgenommen hat. Für wie glaubwürdig halten Sie denn den Auftritt Boocks?

Koenen: Der kann ja auch nur sagen, was er weiß, wenn er das sagt, was er weiß. Er hat aber ja nicht mal gesagt, von wem er das gesagt bekommen hat, er weiß es ja nur vom Hörensagen, das ist ja gar nicht gerichtsverwertbar. Also okay, jetzt wird ein Ermittlungsverfahren gegen Wisniewski eröffnet, aber es braucht ja gerichtsverwertbare Dinge. Und Herr Buback hat ja in der Sendung im Übrigen selber schon angedeutet, was der "Spiegel" ja auch angedeutet hat, dass genauso gut beispielsweise diejenige, die vor 20 Jahren schon Wisniewski genannt hat in Gesprächen mit dem Verfassungsschutz, nämlich Verena Becker, dass beispielsweise auch sie genauso gut die Täterin gewesen hätte sein können, denn es gibt Zeugenaussagen, die eine Frau als Schützin gesehen haben als die Zweite auf dem Motorrad. Also das alles ist ja jetzt genauso offen wie vorher. Ich meine, interessant ist halt schon die Wendung – das ist vielleicht das einzig wirklich Interessante an der Sache –, das hat Herr Buback ja mit seiner, ja, mit seinem Insistieren auch ein wenig ins Rollen gebracht, dass natürlich gefragt wird, wieso muss das jetzt Herr Boock sagen. Erstens, wieso hat man ihn nicht längst befragt, und zweitens aber, wieso sind diese Aussagen, die es schon vor 20 Jahren gab, damals womöglich nicht in den Prozess eingeführt worden, um ihn nicht zu gefährden? Also da sind verschiedene Ecken dieses Rätsels noch zu lösen.

Sagenschneider: Ich fand es schon interessant, dass auch in dieser Sendung das Schema, das Michael Buback ja beklagt, nicht durchbrochen wurde. Buback hat gesagt, ich will wissen, was einzelne Personen genau getan haben, eben nicht pauschal von Teams hören, und dann darf Peter-Jürgen Boock die ganze Sendung über erzählen, man oder die Gruppe habe eben das und das erzählt, aber von wem genau er die Informationen hat, das hat er nicht preisgegeben und eigentlich schlimmer noch, niemand hat ihn danach gefragt. Das war doch erstaunlich, oder?

Koenen: Ja, ja, das war erstaunlich. Aber wir müssen ja zwei Dinge unterscheiden: Damals ist ja der Paragraf eingeführt worden – insofern ist das Ganze ja sowieso jetzt gar nicht irgendwie unmittelbar, jedenfalls für den Fall Klar, relevant –, damals ist der Paragraf eingeführt worden, gerade weil man die Taten einzelnen Tätern nicht zuordnen konnte, dass die Gruppe, die das geplant und ausgeführt hat, als ganze bestraft wird. Also ist Herr Klar, in welcher Rolle er auch mitgewirkt hat, genauso bestraft worden, als wäre er der Schütze gewesen. Dafür ist das gar nicht relevant. Das ist damals eingeführt worden, das war juristisch problematisch, aber eine Art Notwehr-Paragraf der Republik, sagen wir mal, um die Taten überhaupt aburteilen zu können. Und das entsprach ein bisschen im Übrigen auch dem, wie diese Taten geplant und ausgeführt worden sind. Sie sind nämlich in der Tat in der Gruppe arbeitsteilig ausgeführt worden. Insofern juristisch kann das sogar gar keine Rolle spielen. Dass es für den Angehörigen wie Herrn Buback eine Rolle spielt – ich finde, das hat Herr Aust gestern ganz gut gesagt –, das ist so wie jemand, der jemanden im Krieg vermisst hat oder sonst wie umgekommen ist, wissen möchte, wo er begraben ist.

Sagenschneider: Insofern, weil das natürlich auch für Herrn Buback eine große Rolle spielt, wundert man sich auch über die Halbherzigkeit in Sachen Aufklärung, die Boock betreibt, wenn er zum Beispiel dann von der Gruppe spricht und man und man habe ihm erzählt und dann nicht Ross und Reiter nennt. Könnte es auch sein, dass wir hier Beobachter einer geschickten Strategie sind, die mit einer stillen Aussage vor der Bundesanwaltschaft auch gar nicht funktionieren würde, für die jetzt die Medien die Öffentlichkeit braucht, eine Strategie, die zum Ziel hat, Christian Klar, der ja gerne begnadigt werden will, als Justizopfer darzustellen?

Koenen: Nein, nein, nein. Ich meine, Boock ist jemand, der sich immer von Zeit zu Zeit ins Spiel bringt. Er ist ja seit langem raus aus dem ganzen Spiel, er spielt ja eine Sonderrolle, er hat darüber schon Romane geschrieben und mehrere Bücher. Das ist gewissermaßen seine Profession. Er hat sich ja lange genug damit schwergetan, seine eigene Tatbeteiligung preiszugeben, das ist jetzt heraus. In dem Sinne hat er keine besonderen Gründe mehr, irgendwelche anderen Leute zu schützen, denke ich mal. Aber das, was er gesagt hat, ist doch gar nicht gerichtsverwertbar. Das ist doch, selbst wenn er jetzt sagt, wer es ihm gesagt hat, ist es ja nur etwas aus zweiter Hand. Und insofern ist das vergleichsweise irrelevant. Richtig ist, dass Herr Buback durch sein Insistieren – er will wissen, wie die Sachen genau gelaufen sind – vielleicht einen Riss in dieses Schweigekartell gebracht hat, was natürlich um alle diese RAF-Taten noch herum liegt von diesen Restgruppenzusammenhängen aus. Mal sehen, ob man da weiterkommt. Das sind aber nun eigentlich mit die bestaufgeklärten Taten, über die wir jetzt noch reden, im Jahr 77, da geht es nur um die Frage, wer was gemacht hat.

Sagenschneider: Danach wird es dann echt schwierig, da ist so gut wie nichts aufgeklärt.

Koenen: Danach wird es wirklich schwierig, ja.

Sagenschneider: Deutschlandradio Kultur, wir sprechen mit dem Historiker und Publizisten Gerhard Koenen über die mühsame Aufarbeitung und Aufklärung der RAF-Morde. Sie, Herr Koenen, sind ja ein Kind dieser Zeit. Im SDS waren sie engagiert, im Sozialistischen deutschen Studentenbund, später dann Mitglied im Kommunistischen Bund Westdeutschland. Sie haben eine Promotion zur Marx'schen Demokratietheorie abgebrochen, weil Sie es doch für angebrachter hielten, revolutionäre Betriebsarbeit zu leisten. Da ist sozusagen alles drin, was man mit der Zeit in Verbindung bringt, über die Sie ja Ihr Buch "Das rote Jahrzehnt" auch geschrieben haben. Wie groß war die ideologische Nähe der Szene, in der Sie sich bewegt haben, zur RAF? Sie haben mal gesagt, wir haben uns alle als kleine Revolutionäre gefühlt.

Koenen: Ja, natürlich, ich meine, das Reden über Revolution, und das war immer natürlich auch ein Reden über Gewalt. Wie sagte Mao? Revolution ist kein Deckchensticken, sondern ein Akt der Gewalt. Das ist ja klar, das war ganz kleine Münze, so zu reden. Trotzdem muss man sehen, dass alle diese Gruppen – man kann das ja nur wie so Stämme, wie Tribes beschreiben, gegeneinander zum großen Teil strikt abgeschottet waren insofern, als ja immer die jeweils andere Gruppe der nächste Hauptgegner war. In dem Sinne gab es da wenig Cross-over-Bewegungen. Diese ganzen Leute wie Klar oder alle diese Jüngeren, die dann reinrekrutiert wurden in die RAF-Geschichten, kamen nicht aus dem Zentrum der Bewegung. Das waren Oberschüler, die in diesen Komitees dort saßen, die hatten mit den politischen Gruppen, die es gab, sehr wenig zu tun, das waren ganz unbeleckte Leute aus dem zweiten, dritten Glied. Boock zum Beispiel war ja ein Drogenmensch, der als Drogenaddict Baader, Meinhof ganz früh kennengelernt hatte – oder Ensslin – und dann '75, '76 wieder dazurekrutiert wurde aus der Drogenszene. Also das waren überhaupt nicht die typischen politischen Kader dieser Zeit. Und ich denke, das ganze Erschrecken über die RAF-Geschichte ist ja auch – das waren doch die Bürgerkinder, die kamen mitten aus bürgerlichen Familien heraus und drifteten in diesen halben Untergrund rein, den es da gab.

Sagenschneider: Stefan Aust hat das gestern in dieser Sendung, der "Spiegel"-Chefredakteur, sehr schön auf den Punkt gebracht, dass er gesagt hat: Die RAF war eigentlich erst richtig politisch, als sie im Knast saß. Da ging es sozusagen darum, wir sind die Opfer, wir wollen freigelassen werden – ein Opfermythos, der ja auch eine Parallele gezogen hat zum Holocaust. Ist das so eine – also wir erinnern uns an Ulrike Meinhofs Beschreibung der Isolationshaft mit dem Verweis auf die Gaskammern zum Beispiel –, ist das so ein Mythos, der bis heute wirkt und warum man sich auch so schwertut, mit dieser Zeit auseinanderzusetzen?

Koenen: Ja, es gab ja damals einen Bestseller, der nannte die RAF – von einer amerikanischen Autorin – "Hitler's children", also Hitlers Kinder. Und es ist klar, die Gespenster der Vergangenheit standen im Raum. Nur das muss man natürlich reflexiv bewerten, man darf das nicht eins zu eins nehmen. Das trug zu der Hysterie der Situation bei. Das war damals aber eine gesamtgesellschaftliche Situation, und die RAF war ja eigentlich am Ende, also diese erste Generation der RAF nach der Verhaftung des ganzen Kernkaders, und dann, um diese – wie Sie richtig sagen – diese Isolations-, Vernichtungshaft-Kampagnen herum entwickelte sich so etwas wie eine gesamtgesellschaftliche Hysterie. Die einen hielten für möglich, dass da irgendwelche ungeheuren Dinge passieren in den Gefängnissen, auch bis weit ins liberale Spektrum rein, und die Konservativen sagten, Highlife im siebten Stock, denen geht es viel zu gut, die muss man ganz anders anfassen und mit denen wird viel zu liberal umgegangen. Und irgendwie in dieser polarisierten Meinung bekam die RAF eine überlebensgroße Bedeutung, und auf dieser Woge wurden dann auch noch mal diese ganzen Jüngeren dieser zweiten und dritten Generation da reinrekrutiert. Das muss man wie einen gesamtgesellschaftlichen Erregungszustand sehen, und ein bisschen ist das, was wir jetzt sehen, ein fernes Echo genau dieser Situation damals.

Sagenschneider: Die schwierige Aufarbeitung in Sachen Rote Armee Fraktion. Der Historiker und Publizist Gerhard Koenen im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur. Ich danke Ihnen und schönen Tag!
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