Kein neues Standardwerk
Sich an einer neuen Benn-Biografie zu versuchen, ist nicht ganz einfach, denn fast alle Facetten dieses außergewöhnlichen Schriftstellerlebens sind schon beleuchtet. Holger Hof hat dennoch einen Versuch gewagt - und dazu unter anderem auch die Notizen in Benns Tageskalendern ausgewertet.
Gottfried Benn ist groß in Mode. In den letzten Jahren sind viele, kaum mehr zählbare Biografien über den großen Einsamen erschienen, die seine militärisch generierte "Kälte" (Helmut Lethen), seinen Frauenverschleiß (Klaus Theweleit) oder seine politischen Verwerfungen (Joachim Dyck) ins Blickfeld rückten. Dass Benn sich als großen Elitären inszenierte, jenseits aller Politik, scheint auf jeden Fall ungeheuer aktuell zu sein. Er ist der einzige große Autor, der aus der unmittelbaren Nachkriegszeit unbedingt heutig wirkt – und im Gegensatz zu seinem Gesinnungsgenossen Ernst Jünger war Benn damals schon Pop.
Holger Hof fügt jetzt in Benns gegenwärtigem Hausverlag Klett-Cotta eine quasi offizielle Biografie hinzu. Von Pop ist hier allerdings nichts zu spüren. Inhaltlich kann Hof kaum mehr Neues bieten, aber er liefert einige interessante Ergänzungen: er wertet zum ersten Mal die Notizen in Benns Tageskalendern aus und greift auf einige bisher unveröffentlichte Briefe zurück.
Hof schreibt anders als seine meist essayistisch vorgehenden, theoretisch hochfliegenden Vorgänger. Er hält sich streng an ein positivistisches Ideal. Das ist in seiner Nüchternheit ein gewisser Vorteil. Der Autor hangelt sich an sämtlichen verfügbaren Quellen und Dokumenten entlang und zitiert ausgiebig alles, was über den konkreten Tagesablauf Benns, seine Familien- und Beziehungsverhältnisse ausfindig gemacht werden kann. Diese Biografie hinterlässt aber genau dort ein unbefriedigendes Gefühl, wo sich die Benn-Exegeten bisher am intentivsten ausgetobt haben: bei Analysen und Deutungversuchen. Der völkische Schwenk Benns in der späten Weimarer Republik zum Beispiel, obwohl er sich lange ausschließlich in linksintellektuellen Kreisen bewegt und dort veröffentlicht hatte – auch hier wird einiges benannt, es werden viele O-Töne herangezogen, aber letztlich bleibt alles doch zu sehr an der Oberfläche.
Bei Benns "expressivem Aprèslude" nach 1945, seiner späten Prosa wagt sich Hof am ehesten aus der Deckung; er benennt einen "absolut gewordenen Relativismus", einen "Strudel", aus dem Benn sich "nicht mehr befreien" konnte. Am Anfang unternimmt der Biograf auch den formal nicht ganz geglückten Versuch, die übliche Chronologie zu durchbrechen: Benns Lebensgeschichte beginnt in diesem Buch in den entscheidenden Umbruchjahren 1943 bis 1945. Im Ganzen wirkt diese solide, stilistisch manchmal holprige Biografie eher wie eine bloße Aneinanderreihung von interessanten Belegstellen. Man wird in Zukunft gern die oft entlegenen und schwierig aufzufindenden Zitate daraus zitieren. Aber ein neues Standardwerk ist das wohl kaum.
Besprochen von Helmut Böttiger
Holger Hof: Gottfried Benn. Der Mann ohne Gedächtnis. Eine Biografie
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2011
537 Seiten, 26,95 Euro
Holger Hof fügt jetzt in Benns gegenwärtigem Hausverlag Klett-Cotta eine quasi offizielle Biografie hinzu. Von Pop ist hier allerdings nichts zu spüren. Inhaltlich kann Hof kaum mehr Neues bieten, aber er liefert einige interessante Ergänzungen: er wertet zum ersten Mal die Notizen in Benns Tageskalendern aus und greift auf einige bisher unveröffentlichte Briefe zurück.
Hof schreibt anders als seine meist essayistisch vorgehenden, theoretisch hochfliegenden Vorgänger. Er hält sich streng an ein positivistisches Ideal. Das ist in seiner Nüchternheit ein gewisser Vorteil. Der Autor hangelt sich an sämtlichen verfügbaren Quellen und Dokumenten entlang und zitiert ausgiebig alles, was über den konkreten Tagesablauf Benns, seine Familien- und Beziehungsverhältnisse ausfindig gemacht werden kann. Diese Biografie hinterlässt aber genau dort ein unbefriedigendes Gefühl, wo sich die Benn-Exegeten bisher am intentivsten ausgetobt haben: bei Analysen und Deutungversuchen. Der völkische Schwenk Benns in der späten Weimarer Republik zum Beispiel, obwohl er sich lange ausschließlich in linksintellektuellen Kreisen bewegt und dort veröffentlicht hatte – auch hier wird einiges benannt, es werden viele O-Töne herangezogen, aber letztlich bleibt alles doch zu sehr an der Oberfläche.
Bei Benns "expressivem Aprèslude" nach 1945, seiner späten Prosa wagt sich Hof am ehesten aus der Deckung; er benennt einen "absolut gewordenen Relativismus", einen "Strudel", aus dem Benn sich "nicht mehr befreien" konnte. Am Anfang unternimmt der Biograf auch den formal nicht ganz geglückten Versuch, die übliche Chronologie zu durchbrechen: Benns Lebensgeschichte beginnt in diesem Buch in den entscheidenden Umbruchjahren 1943 bis 1945. Im Ganzen wirkt diese solide, stilistisch manchmal holprige Biografie eher wie eine bloße Aneinanderreihung von interessanten Belegstellen. Man wird in Zukunft gern die oft entlegenen und schwierig aufzufindenden Zitate daraus zitieren. Aber ein neues Standardwerk ist das wohl kaum.
Besprochen von Helmut Böttiger
Holger Hof: Gottfried Benn. Der Mann ohne Gedächtnis. Eine Biografie
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2011
537 Seiten, 26,95 Euro