Kein Menschenrecht auf Opportunismus

Von Rolf Schneider |
Günter Gaus, der 2004 verstorbene Publizist und Diplomat, hat einmal von einem Menschenrecht auf Anpassung gesprochen. Er tat dies im Hinblick auf die Bevölkerung der DDR. Anpassung wird hier als eine Spielart der Sozialisation begriffen, aber natürlich, was Gaus unterschlägt, spielen auch Opportunismus und Feigheit hinein.
Gibt es ein Menschenrecht auf Opportunismus? Es gibt den Opportunismus als verbreitetes Sozialverhalten, da jene, die ihn betreiben, sich davon ein materiell besseres oder doch bequemeres Dasein erhoffen. Kritik ist geistiger Widerstand, der Nachteile bringen kann, Unbequemlichkeit, Verluste, manchmal das Martyrium.

Julien Bendas berühmter Essay von 1927 heißt auf Deutsch „Der Verrat der Intellektuellen“. Im französischen Original steht das Wort „clercs“, nicht „intellectuels“; „clerc“ bedeutet Schreiber, gemeint sind die Literaten. Benda sah seinerzeit die Schriftsteller abgleiten in totalitäre Ideologien, der von ihm angeprangerte Verrat war jener an Liberalität und Demokratie.

Es setzte voraus, dass Schriftsteller eine moralische Instanz seien, was sie freilich schon in der Vergangenheit bloß selten waren und es heute noch weniger sind. Auch die übrigen Intellektuellen sind es seltener. Die Autorität von Sartre in Frankreich, Böll in Deutschland, Havel in Tschechien und Sacharow in der Sowjetunion hat niemand mehr, auch nicht Bernard-Henri Lévy oder Günter Grass.

Gewiss, es gibt den tapferen Chinesen Liu Xiaobo, Dissident, Mitverfasser der Charta 08, zu elf Jahren Gefängnis verurteilt und mit dem Friedensnobelpreis geehrt. Welche Prominenz, welche Wirkung hat er in seiner Heimat? Ich weiß es nicht.

Anpassung und Kritik können innerhalb einer einzigen Biografie stattfinden. Um ein paar prominente Beispiele zu nennen: Gottfried Benn hat 1933 die Nazis öffentlich bejubelt, bloß ein Jahr später wurde er von der Parteipresse geschmäht und erhielt Publikationsverbot.

Robert Havemann war, ehe er der DDR bekanntester Dissident wurde, ein engagierter Stalinist und Konfident der Staatssicherheit. Leute, die vom Marxismus fasziniert waren, dort das kritische Denken erlernten und gleichwohl (oder eben deshalb?) mit marxistisch-leninistischen Regimes in existenzielle Konflikte gerieten, sind zahlreich. Die Reihe führt von Leo Kofler, Georg Lukács, Ernst Bloch über Stefan Heym bis zu Roi und Shores Medwedjew und zu Rudolf Bahro.

Anpassung und Kritik gibt es, als Gegensatzpaar, manchmal als dialektische Ergänzung, nicht nur in totalitären Herrschaftssystemen. Offene Gesellschaften, wie wir eine haben, kennen die provokatorische Kritik als erfolgsverheißendes Verkaufsinstrument und somit als eine Form der listigen Anpassung an den Markt. Kritik ist keinesfalls immer identisch mit Zivilcourage.

1989/90 schien der Totalitarismus wenigstens in Europa weitgehend gescheitert. Heute müssen wir sehen, dass es Bestrebungen zu einem postkommunistischen Totalitarismus gibt, in Weißrussland, in der Ukraine, aber auch in jenem Land, das vor 1989 das liberalste im kommunistischen Osteuropa war, nämlich Ungarn. In Italien sehen wir, wie ein Großteil der Bewusstseinsindustrie auf erfolgreiche Verblödung des Publikums setzt und die ebenso scharfe wie risikoarme Kritik von Umberto Eco, Roberto Saviano und der Zeitung „Repubblica“ häufig ins Leere läuft.

Nach alledem bleibt festzustellen, dass Anpassung weniger ein Menschenrecht als eine Form der bequemen Vorteilsnahme ist und Systemkritik gelegentlich Zivilcourage erforderlich macht. Dergleichen gilt für die „clercs“ und die anderen Intellektuellen ebenso wie für die übrige Gesellschaft.

Rolf Schneider, Schriftsteller, Essayist, Publizist, stammt aus Chemnitz. Er war Redakteur der kulturpolitischen Monatszeitschrift Aufbau in Berlin (Ost) und wurde dann freier Schriftsteller. Wegen „groben Verstoßes gegen das Statut“ wurde er im Juni 1979 aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossen, nachdem er unter anderem zuvor mit elf Schriftstellerkollegen in einer Resolution gegen die Zwangsausbürgerung Wolf Biermanns protestiert hatte. Veröffentlichungen u. a. „November“, „Volk ohne Trauer“ und „Die Sprache des Geldes“. Rolf Schneider äußert sich insbesondere zu kultur- und gesellschaftspolitischen Themen.
Rolf Schneider, Schriftsteller und Publizist
Rolf Schneider© Therese Schneider
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