Kein Mainstream, keine pure Kunst

11.02.2010
Im deutschen Film gebe es nur zuschauerferne Kunstfilme oder anspruchsloses Mainstreamkino, sagt der Jungregisseur Dietrich Brüggemann. Er sucht die goldene Mitte. Das Drehbuch für seinen neuesten Film "Renn wenn du kannst" hat er zusammen mit seiner Schwester Anna geschrieben.
"Mich wundert es schon fast, dass ich das immer erklären muss, weil es ist für uns einfach so selbstverständlich, weil wir schon immer sehr eng miteinander waren und auf ganz ähnlichen Bahnen gedacht haben und uns dann aber auch gut ergänzt haben. Dann war eigentlich zusammen einen Film zu schreiben, nur die logische Folge davon."

Bei diesem innigen Verhältnis ist es nicht weiter verwunderlich, dass sich die Geschwister – zusammen mit sechs weiteren Filmschaffenden – auch ein Büro teilen. Dort, in einem Hinterhof in Berlin-Treptow, sitzt der 1,88 Meter große, etwas schlaksige Regisseur, der seine blonden Haare unter einer kakifarbenen Kappe versteckt hat, und bietet schwarzen Tee mit Milch an.

Er trägt Trainingsjacke, Jeans und schwarze Boots, hat ein Bärtchen am Kinn und erinnert an einen DJ oder den Roadie einer Musikband. Im Nebenraum hat Dietrich Brüggemann seinen Film "Renn wenn du kannst" geschnitten, in dem seine fünf Jahre jüngere Schwester – wie bereits bei seinem Debütfilm – nicht nur am Drehbuch mitgeschrieben hat, sondern auch eine der Hauptrollen spielt. Sie ist im Film die cellospielende Musikstudentin, in die sich der Rollstuhlfahrer Ben und sein Zivi Christian verlieben.

"Das härteste Thema liegt da schon auf dem Tisch, das ist einfach Behinderung und Sexualität, und das Problem, wie man sich selber für attraktiv halten soll, wenn man sich eigentlich nicht für attraktiv hält, und das in einer Welt, in der man immer mit perfekten Oberflächen bepfeffert wird. Aber der Film erzählt auch ganz viel von einer Sehnsucht nach einem Leben, das toll ist, und von Musik und Fantasie und von einer Art und Weise, sich eine eigene Welt auszudenken, in der man sich wohlfühlen kann."

Das Thema Behinderung mit viel schwarzem Humor zu würzen, mag für viele einer Gratwanderung gleichkommen, Dietrich Brüggemann gelingt es jedoch, diese Dreiecksgeschichte mit einer ungewöhnlichen Leichtigkeit zu erzählen.

"Wir hatten da ziemlich wenig Berührungsängste, dadurch dass Anna und ich da mit dem Thema wirklich aufgewachsen sind, weil unsere jüngste Schwester auch behindert ist und im Rollstuhl sitzt. Dann habe ich selber natürlich Zivildienst gemacht, auch individuelle Schwerstbehindertenbetreuung, und auch da, es ist ja so eine Subkultur, so eine Szene, wie Behinderte miteinander umgehen. Die pflegen einen sehr robusten Humor, der ihnen auch über vieles hinweghilft, und mit dem konnte ich sehr viel anfangen, der ist auch im Film voll drin."

Szene aus "Renn wenn du kannst":

"Ben: "Wie heißt die Tante noch mal, die dich rausgeschmissen hat?"

Zivi: "Theresa."

Ben: "Ah, grüne Augen, rote Haare, Muskelschwund, richtig?"

Zivi: "Kennst du sie?"

Ben: "Klar kenne ich die, ich kenn die alle. Mit Mucki-Schwundis ist nicht zu spaßen. Noch schlimmer sind allerdings die MS-Kranken, die sind ganz krass drauf. Dagegen sind sogar Querschnittsgelähmte vergleichsweise harmlos. Das Schlimmste allerdings, was dir passieren kann, sind Schlaganfallopfer, sogenannte Hemiplegiker, die sind meistens bösartig.""

Der Berliner Regisseur und Drehbuchautor mag Humor und eine gewisse Absurdität in seinen Filmen, schließlich sei das Leben aus einer kritischen Distanz betrachtet doch eine unglaublich komische Veranstaltung, erzählt der Schnellsprecher schmunzelnd. Im deutschen Film vermisst der Jungregisseur oft die goldene Mitte zwischen extremen zuschauerfernen Kunstfilmen und einem stupiden Mainstream-Kino.

"Es gibt im amerikanischen Independent- oder Halbindependent-Film ganz viele Filme, die mich künstlerisch nicht für blöd verkaufen und trotzdem irgendwie unterhaltsam sind und ein interessantes Thema verhandeln. So etwas gibt es mir in Deutschland zu wenig. Und das ist das Feld, auf dem ich arbeiten möchte, das ist das, was mich interessiert. Nennen wir es einfach mal intelligente Unterhaltung."

Dietrich Brüggemann wurde 1976 in München geboren. Als er 8 Jahre alt ist, zieht die Familie für vier Jahre nach Johannesburg, weil sein Vater dort an der Uni als Germanistikprofessor lehrt. Im Alter von 13 bis 17 Jahren lebt Dietrich Brüggemann dann in Sindelfingen, fotografiert, zeichnet, spielt Theater, macht Musik, schreibt für die Schülerzeitung und weiß nicht, auf welches Talent er setzen soll.

Die vielen Umzüge erschweren langanhaltende Freundschaften, schweißen dafür aber die Familie enger zusammen. Vor allem Dietrich und Anna verstehen sich blind und können über die gleichen Dinge lachen – bis heute.

"Wir haben einen sehr, sehr ähnlichen Blick auf Menschen, wobei mein Blick oft noch etwas bissiger und böser ist und Anna etwas empathischer."

Abitur und Zivildienst macht er dann in Regensburg, schaut sich dort im Kommunalen Kino Arthaus-Filme an, auch wenn er oft der einzige Zuschauer ist. Bis dahin ist er eigentlich eher Bücherleser als Filmegucker. Ein paar Filme haben ihn aber schon damals nachhaltig beeindruckt, zum Beispiel Luc Bessons "Leon der Profi".

"Auch davor "Im Rausch der Tiefe" das ist auch ein bombastisches Riesenwerk, und diese Sachen habe ich gesehen und dachte, wow, das kann ja auch Kino sein, ist ja unglaublich. Und dann habe ich in der Zeit auch mal Terry Gilliams "Brazil" gesehen. Und das ist für mich in gewisser Weise der größte Filme, der je gemacht wurde."

Dieser Film sprengt für ihn alle Grenzen. 10 bis 12 Mal schaut er sich die düstere Zukunftsgroteske mit den surrealistischen Traumvisionen an und ist mitgerissen von Gilliams’ Gabe, "eine inhaltlich profunde Auseinandersetzung mit unserer Zeit in visionäre Bilder zu packen", so Brüggemann wörtlich.

Mit 20 besucht er dann seine Schwester am Set, als sie das erste Mal vor der Kamera steht. Dietrich Brüggemann ist begeistert und weiß nun endlich, was er machen möchte.

Er geht nach München, studiert dort Theaterwissenschaften, macht Praktika beim Film und wird mit 24 Jahren schließlich an der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam-Babelsberg angenommen. Zunächst wohnt er mit seiner Schwester in einer 5er-WG im Wedding, dann zieht er in eine 2er-WG am Halleschen Tor in Kreuzberg.

"Ich habe gerne Leute um mich rum und ich finde auch, alleine wohnen ist unnötig kompliziert. Also ich finde es schöner, wenn ich morgens in die Küche komme und meinen Kaffee nicht alleine trinken muss."

Auch das Büro erinnert mit den Zeitungsstapeln, seinem mit Edding bemaltem Schreibtisch und der Fotowand an eine Studenten-WG. Seine Kollegen im Büro sind gleichzeitig seine besten Freunde.

"Das ist ja Lebenszeit, die man hier verbringt, und das ist toll mit guten Leuten, mit denen man dieselbe Ideenwelt teilt. Und mit denen stehe ich auch gerne mal eine halbe Stunde in der Küche und quatsche mich fest. Und wenn ich dann wirklich Termindruck habe, dann beeile ich mich halt."

Der energiegeladene 33jährige sprüht vor Ideen. Er überlegt, mit seinen Freunden eine Produktionsfirma zu gründen, denkt laut über eine Büro-Band nach, er sammelt alte Schallplatten und legt sie einmal im Monat in einem Kreuzberger Lokal auf, er begleitet Stummfilme am Klavier und hat zusammen mit seiner Schwester bereits das Drehbuch für seinen nächsten Film fertiggestellt – eine Geschichte um acht Freunde, die immer wieder umziehen. Und irgendwann möchte Dietrich Brüggemann natürlich auch im Wettbewerb der Berlinale laufen.

"Das ist das Ziel natürlich, klar, aber wir lassen uns Zeit."