Kein historisches Vergessen befördern

Von Jacqueline Boysen |
"Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung" - hieß es ausdrücklich 1950 in der Charta der Heimatvertriebenen. Jahrzehntelang hat man den Vertriebenenverbänden dieses, ihr eigenes Postulat nicht abgenommen, sie standen unter dem Verdacht des Revanchismus – und einige ihrer zum Teil längst verstorbenen Wortführer nährten die gängigen Vorurteile.
Noch heute versucht die sogenannte Preußische Treuhand, ein Unternehmen, das von Funktionären der Landsmannschaft Ostpreußen gegründet wurde, in Polen und Tschechien vermeintliche Rechte und Ansprüche einst Vertriebener oder deren Nachkommen mit nicht eben freundlichem Auftritt zu erstreiten. Dabei geht im deutsch-polnischen Verhältnis viel zu Bruch.

Dennoch: Die Mehrzahl der nach 1945 vertriebenen Menschen aus Preußen und Schlesien, dem Banat oder Böhmen sind keine Fremden in der Bundesrepublik, sondern sind längst integriert, sie schreien nicht mehrheitlich nach Aufrechnung oder gar Rückkehr in das mehr oder minder glorifizierte Land ihrer Groß- oder Urgroßeltern, sitzen nicht auf gepackten Koffern und wollen ihrerseits niemanden vertreiben – selbst für das uneigennützige Engagement Einzelner zugunsten daniederliegender Dorfkirchlein oder Gutshäuser lassen sich heute Beispiele finden.

Das Thema Vertreibung gehört dennoch zu jenen historischen Phänomenen, die im öffentlichen Bewusstsein mit einem Stigma behaftet sind und Widerwillen auslösen - bis heute politisch glattes Parkett betritt, wer sich Anliegen der Vertriebenenverbände zu eigen macht. Und so ist es nur folgerichtig, dass die Kanzlerin sich der Sache selbst annimmt.

Angela Merkel hat bereits bei der Regierungsbildung und der Besetzung von delikaten Posten und Ämtern sensibel gehandelt: denn dass Erika Steinbach, die engagierte Präsidentin des Bundes der Vertriebenen nicht etwa im Kulturausschuss des Deutschen Bundestags die Wortführerschaft für die Union übernehmen durfte, war allen klar, bis auf Frau Steinbach selbst. Und so steht diese nun auch als Betroffene, als Lobbyistin für das geplante Ausstellungs- und Erinnerungsprojekt beratend zur Verfügung, nicht aber als Akteurin. Gespannt dürfen wir weiter sein auf das genaue Vorhaben des Kulturstaatsministers, der sich wie üblich bisher bedeckt gehalten hat, aber immerhin eine nicht unerhebliche Summe für das Ausstellungsunternehmen einplant und offenbar einen Standort befürwortet, der einen deutlichen Abstand zu den großen historischen Mahn- und Erinnerungsstätten in Berlins Mitte wahrt.

Das nun ist alles nicht nur bedeutsam für den Koalitionspartner, der sich in Gestalt von Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse geradezu festgebissen zu haben scheint an der Feindfigur Steinbach - das zählt vor allem gegenüber dem Nachbarland Polen. Und diesem gilt es zu zeigen, wie ernst es Historiker, Ausstellungsmacher, die entscheidenden Politiker und die deutsche Bevölkerung heute meinen - mit jenem Postulat aus dem Jahr 1950, nach dem auf Rache und Vergeltung verzichtete werden kann - das aber gleichzeitig kein historisches Vergessen befördern wollte.